Die Untoten aus dem TV-Gerät
Sie mögen die Welt nicht, wie sie ist? Dann fliehen Sie doch ins weihnachtliche TV-Programm. Für drei Tage bleibt alles, wie es nie war. Loriot lebt noch - und die DDR irgendwie auch, wenn man nur daran glaubt. Wir haben uns durchgezappt und geraten ins postfaktische Grübeln.
Ich nutze das Fernsehen, so wie ich Artischocken esse. Jährlich eins, zwei Mal auf der Pizza oder im Salat. Jeder Versuch endet mit der Erkenntnis – geschmacklos, glibberig, mag ich nicht. Wirklich angetan hat es mir das knospige Gewächs nur ein Mal. In Frankreich war das, die Blätter waren frisch und blieben zart, Butter floss schmelzend von ihnen hinab.
In diesem Jahr habe ich das Unterhaltungsprogramm der TV-Sender wieder auf seine artischockengleiche Glitschigkeit getestet. Pilawa, Lanz und Kerner, dazu natürlich die Frau Fischer – das sind die Personalien, die es mir normalerweise geschmacklich verderben. Für die ach so intelligenten US-Serien bin ich zu dumm, für die vordiktierten Hihi-guck-mal-wie-asozial-die-sind-Dokuserien einen Hauch zu klug.
Weltflucht, lass dich umarmen
An Feiertagen aber triumphieren ja für gewöhnlich einst liebgewonnene Filme über das pseudogefühlige Werktagsgesabbel und den Quiz-Quatsch am Vorabend. Und tatsächlich, ist die verschollen geglaubte Fernbedienung erstmal auf dem Küchenschrank gefunden – wie kommt sie da eigentlich hin? –, schleicht sich ein wundersam wohliges Gefühl ein: Die Welt kann Kopf stehen, aber das einzige, das im Fernsehen klemmt, ist die Suppenschüssel auf Michels Kopf.
Weltflucht, lass dich umarmen. Nachdem eine innere Stimme meinem Gewissen beim Ente-Essen permanent ein mahnendes "Aleppo" zugezischt hat, sehe ich dem verkannten Lümmel aus Lönneberga zu, wie er schwedische Blutwurst ins Armenhaus schleust. Der Erwachsenanteil der Quote fürs Kinderprogramm dürfte dem Zuckeranteil eines gepanschten Glühweins entsprechen. Schließlich verbarrikadiere ich mich nach der dem Terror geschuldeten ARD-Brennpunkt-Dauerschleife vor Weihnachten nur zu gerne in einer von Astrid Lindgren beschriebenen Vergangenheit.
Wobei ich mit Gauckscher Strenge vor der Mauer in den Knöpfen warnen muss. Wer drei Tage lang in der DDR leben will, huldigt, zum Beispiel im RBB, der "Weihnachtsgans Auguste" und ergibt sich der psychedelischen Welt sowjetischer Märchenfilme. Hoffnungslose Westalgiker entfliehen Gesamtdeutschland am besten mit Hilfe einer 50er-Jahre-Schmonzette im BR.
Loriot wird niemals sterben
Aber Moment mal, eine Nachrichtensendung quetscht sich zwischen zwei Märchenfilme, die erste Meldung: Der Papst verteilt den Segen "Urbi et orbi". Potzblitz, was kommt als Nächstes – dass der Bundespräsident das Ehrenamt lobt? Ja, tatsächlich. Und das ist ja das Schöne an den Einfällen fürs Weihnachtsprogramm, es gibt gar keine. Stattdessen bleibt alles, wie es nie war. Apropos, die vom Ballast historischer Fakten befreite Verfilmung der "Schicksalsjahre einer Kaiserin" lässt nicht nur meine Mutter noch immer vor Freude glucksen: "Ach, Sissi kommt auch wieder." Tatsächlich, dreieinhalb Stunden im Ersten.
Dabei ist Sissi doch tot. Und Rudi Carrell auch. Und Harald Juhnke. Und Eddy Arent. Und Loriot. Wirklich? Nach drei Tagen schneeloser Berieselung komme ich ins postfaktische Grübeln. Wer flimmert, der stirbt nicht. Auch wenn der Röhrenfernseher der Flatscreen gewichen ist, ein Haufen untoter TV-Idole passt in beide rein. In diversen dritten Programmen sehen meine eckigen Augen Loriot im Kreise der Familie Hoppenstedt Weihnachten feiern. Der kann also gar nicht tot sein. Und wie immer sagt er einen der den Deutschen liebsten Weihnachtssätze, die man beim Baumschmücken so betont, als wären sie selbstformuliert: "Früher war mehr Lametta."
Ob wenigstens die privaten Sender mich zurück in die Gegenwart führen? Auf RTL reitet mir eine wunderschöne Frau mit Pocahontas-Frisur entgegen. Eine spektakuläre Neuverfilmung soll das sein. Und die Schönheit auf dem Pferd, das ist Winnetou.