Fesselnd erzähltes Jugendbuch

05.12.2011
Ein obdachloser 16-Jähriger wird in London aufgegriffen und nimmt die Identität eines Jungen an, der zwei Jahre zuvor spurlos verschwunden ist. Jenny Valentine mixt handfesten Krimi, Psycho-Thriller und Entwicklungsroman zu einem mitreißenden Jugendbuch.
Mit dem Erscheinen ihres ersten Jugendbuchs "Wer ist Violet Park" im Jahr 2007 wurde Jenny Valentine sozusagen über Nacht berühmt. Sie habe eine "magische Erzählstimme, der man sich nicht entziehen kann", hieß es in einer Kritik. Rasch folgten die Jugendromane "Kaputte Suppe", "Die Ameisenkolonie" und in diesem Herbst auf Deutsch "Das zweite Leben des Cassiel Roadnight".

Es ist eine außergewöhnliche Geschichte, die Jenny Valentine in ihrem vierten Jugendroman erzählt. Der 16-jährige Chap, ein obdachloser Streuner, wird in London aufgegriffen, seine Identität will er aber um keinen Preis verraten. Er sei ein Niemand, sagt er. Als man Chap wegen der verblüffenden Ähnlichkeit für Cassiel Roadnight hält, einen Jungen, der zwei Jahre zuvor spurlos verschwunden ist, nimmt er kurzentschlossen dessen Identität an. So, glaubt er, könne er seine schwierige Vergangenheit hinter sich lassen und endlich eine intakte Familie finden, die er sich immer erträumt hat.

Doch der Traum wird schnell zum Albtraum für Chap. Dass er nicht sofort als Betrüger entlarvt wird, hängt mit einigen Zufällen zusammen und der Tatsache, dass auch Cassiel sich in diesen zwei Jahren sehr verändert hätte. Und wenn der Bruder des vermissten Cassiel Chap schnell als Lügner durchschaut, dann hat er seine eigenen guten – oder schlechten – Gründe, ihn nicht zu verraten. Chap schwankt zwischen Euphorie und Panik, das neue Leben ist Glück und Hölle zugleich - ein Ritt auf des Messers Schneide. Erst als er die mörderischen Hintergründe von Cassiels Verschwinden entdeckt, wird ihm klar, wie wichtig es ist, die Wahrheit herauszufinden – über seinen Doppelgänger und sich selbst.

Chap erzählt seine Geschichte selbst, ein Kunstgriff, der zur anhaltenden Spannung des Romans beiträgt. Denn er liebt es, über seine Vergangenheit zum Beispiel nur Andeutungen zu machen und den Leser zappeln zu lassen. Erst langsam ergibt sich aus vielen einzelnen Mosaiksteinen ein Bild. Lakonisch, salopp, kurz angebunden berichtet Chap abwechselnd von seiner komplizierten Kindheit im Haus des Großvaters, auf der Straße und im Heim und von seinem neuen Leben als Cassiel Roadnight. Der hochsensible und intelligente Junge packt seine permanente Anspannung in aufwühlende Selbstgespräche und zeichnet die seelischen Zerreißproben, in die er gerät, in packenden Bilder.

Jenny Valentine mixt handfesten Krimi, Psycho-Thriller und Entwicklungsroman zu einem mitreißenden Jugendbuch. Wobei es ihr um mehr geht als um Unterhaltung: um die Frage nach Identität nämlich und Schein, nach Wahrheit und Lüge, Betrug und Schuld. Dass sie – um der Spannung willen – einige Zufälle, Bösewichter und Geheimnisse zu viel einbaut, sei ihr verziehen angesichts des rasanten Tempos, das der Roman entwickelt. Gerade Jungen werden sich mit Chap und seinen aufregenden Entdeckungen gerne identifizieren.

Überraschend auch der Schluss, wenn alle verknoteten Handlungsfäden entwirrt werden. Chap deckt das Geheimnis nicht nur von Cassiels Verschwinden auf, sondern auch seine eigene Identität. Womit Jenny Valentine erneut bewiesen hat, dass sie fesselnd erzählen kann. "Das zweite Leben des Cassiel Roadnight" besitzt alles, was ein gutes Jugendbuch braucht: einen vielschichtigen Protagonisten, eine faszinierende Geschichte, eine mitreißende Sprache und eine klare Haltung: Du schaffst es!

Besprochen von Sylvia Schwab

Jenny Valentine: Das zweite Leben des Cassiel Roadnight
Aus dem Englischen von Klaus Fritz
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011
238 Seiten, 12,90 Euro, ab 14 Jahren