Programmempfehlung: Am Mittwochabend, 20. August 2014, eröffnen das Ensemble Modern und das Ensemble Synergy Vocals mit dem Stück "Music for 18 Musicians" von Steve Reich das Festival Atonal Berlin. Der Geschäftsführer des Ensembles Modern, Roland Diry, sprach im Interview am Mittwoch auf Deutschlandradio Kultur u.a. über das Festival, sein Ambiente und die Kriterien der Musikauswahl. Hier können Sie das Interview hören.
Schluss mit dem "Kirmes-Techno-Schlamm"!
Wummernde Bässe und ungewöhnliche, schwer konsumierbare Musik - sie werden das Festivals Berlin Atonal im Kraftwerk in Berlin-Mitte prägen. In den frühen 80er-Jahren begann es als Gegengewicht zum Mainstream. Nach 23 Jahren Pause wurde das legendäre Festival 2013 reaktiviert - auch wegen der Technospaßkultur.
Bei Atonal ging es von Beginn an um ein Gegengewicht zum damaligen Mainstream - zu Popmusik wie Abba oder die fröhliche Neue Deutsche Welle. Zum Teil aus dem Geist der Punkbewegung hatte sich eine neue Szene entwickelt, die in Amerika "No Wave" genannt wurde, in Berlin "Geniale Dilettanten", und die sich an bestimmten Orten verdichtete: Sheffield, Hackney, New York – und eben Berlin. Und die an einem Ort zusammenzubringen, auf einer Bühne – das war das Ding für den Neuberliner Dimitri Hegemann, als er das erste Atonal-Festival aus dem Boden stampfte.
Und während sich das 1982 noch auf Berliner Bands beschränkte – Einstürzende Neubauten, Die Haut, Malaria!, Sprung Aus Den Wolken und so -, da reiste bei den nächsten Ausgaben, nachdem die Welt-Popmusikpresse darüber berichtet hatte, gleich das Unfassbarste aus allen Ländern an: schockierende Performances, nervenzerrende und geradezu hässliche Musik! Es gab die sektenähnlichen Psychic TV aus London, den monsterhaften Plastikkanistertrommler Z’Ev aus Kalifornien, das Test Dept mit riesigen Metallgegenständen; es gab seltsame Truppen wie Temple Of Psychic Youth oder Laibach, die bretonischen Brachialkammerrocker Art Zoyd.
Auftrag erfüllt
Mit jedem Atonal wurden neue bizarre Klangformationen aus dem sagenumwobenen Untergrund gezogen, einige völlig krank, schockierend und gleichzeitig haarsträubend faszinierend – und mit einem zum chaotischen Driften neigenden Subkultur-Pilger als Initiator.
Dimitri Hegemann: "Ich konnte mich dann auch für neue Musik wieder begeistern. Also auch diese Atonal-Festivals – diese neuen Ausdrucksformen, wo Krach Musik ist –, ich hab das überhaupt nicht verstanden. Atonal, sehe ich so, liefert manchmal Antworten auf Fragen, die noch gar nicht gestellt worden sind. Und das ist ja auch manchmal so – man geht dahin und weiß gar nicht: Was ist denn das? Verstehe ich nicht oder gefällt mir nicht – und Jahre später kapiert man das erst, und man war halt zufällig dabei".
Und immer war Hegemanns Atonal ein bisschen – unperfekt: zum Beispiel, als die Neubauten 1982 im SO36 mit dem Presslufthammer hantierten und der beinahe den Backstagebereich zerlegte. Oder 1983, als in den Pankehallen im Wedding die Stromversorgung zusammenbrach, aber in der Schlange von frierenden Besuchern vor der Kasse fand sich erfreulicherweise ein Elektriker, der einfach ein dickes Kabel zur Baustelle nebenan legte... "Atonal" war eben immer ein bisschen anders: ein Labor zur Erweiterung der Hörgewohnheiten und – ja, auch des Bewusstseins.
Und deshalb musste das Festival dann tatsächlich auch aufhören, als es 1989 mit Techno die neue globale Jugendbewegung entdeckt hatte: Spätestens als ein paar Monate nach dem Festival die Mauer fiel und Kids aus West und Ost ,ohne Kommunikationsprobleme, einfach zusammen tanzten und feierten - Auftrag erfüllt!
Techniken der Elektromusik ohne Elektronik
Heute, 25 Jahre später, ist Techno überall - beim Schuhekaufen oder beim Frisör, bei der Tchibo-Eröffnung oder auf der dörflichen Partybühne: Heute heißt Techno nur noch Spaß! Dabei hatten es die Erfinder eigentlich erst gemeint – zumindest ernsthaft. Und um die ernsthaft arbeitenden Elektromusiker aller Welt endlich mal wieder gegen den Kirmestechnoschlamm zu rehabilitieren, hat Hegemann im vorigen Jahr – nach 23 Jahren Pause – Atonal wieder reaktiviert. Das kam gut an, 10.000 Leute sollen gekommen sein. In diesem Jahr soll es diverse Premieren geben von Acts mit rätselhaften Namen. Für Nicht-Fachleute die wahrscheinlich bekanntesten - weil alten - Recken sind wahrscheinlich der Kanadier Tim Hecker, der durchaus auch poppig klingen kann, die Drum 'n' Bass-Veteranen Source Direct, die 1994 diese Musik als düstere Zukunftsmusik definierten, und Cabaret Voltaire. Mit ihrer Mischung aus Tanzmusik, Techno, Dub und Verstärkerlärm sind sie eine der einflussreichsten Bands der letzten 40 Jahre.
Und dann ist Nicht-Technofachleuten vermutlich - wenn auch aus ganz anderen Zusammenhängen - das Ensemble Modern ein Begriff, das heute Abend das Festival eröffnet: Zusammen mit dem englischen Ensemble Synergy Vocals werden die Frankfurter Modernisten Steve Reichs Minimal-Music-Hit "Music for 18 Musicians" aufführen – jenes Stück, das beispielhaft die Techniken der späteren Elektromusik vorwegnahm: Loops, ständige Wiederholung, Phasing - und ganz ohne Elektronik!