Festival in Avignon ist zurück

"Kunst ist dazu da, die Ordnung zu zerstören"

05:43 Minuten
Szenenbild aus der Inzenierung "Liebestod" der katalanischen Regisseurin Angélica Liddell. Eine schreiende Frau im schwarzen Kleid steht neben einem Stier.
Die Inszenierung der Regisseurin Angélica Liddell feiert den Stier und den legendären Stierkämpfer Juan Belmonte. © Festival d'Avignon / Christophe Raynaud de Lage
Von Eberhard Spreng |
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Beim Theaterfestival in Avignon sticht die Uraufführung "Liebestod" der Regisseurin Angélica Liddel hervor. Unser Kritiker erlebt eine Beschwörung und Abrechnung mit einer Kultur, die den Kontakt zu ihren mythologischen Quellen verloren hat.
Wahrscheinlich muss man sich demnächst entscheiden, ob man große Theaterkunst sehen will oder Bühnenunterhaltung, die dem aktuellen gesellschaftlichen Diskursgeschehen entspricht. Das zumindest darf man vermuten, wenn man sich die Arbeiten der ersten Festivalwoche in Avignon anschaut.
Die spanische Künstlerin und Regisseurin Angélica Liddell.
Die spanische Künstlerin und Regisseurin Angélica Liddell gestaltet ihre Uraufführung "Liebestod" auch als Publikumsbeschimpfung. © AFP / Nicolas Tucat
Denn der einzige wirkliche, große, durchschlagende Erfolg legt sich mit allem an, was uns die deutsche Theater- und Gesellschaftsdebatte an Konsens in der letzten Zeit beschert hat. Der zweitgrößte, aber theatergeschichtlich sicher bescheidenere Erfolg macht diskurstechnisch alles richtig, flüchtet sich aber mit seiner Melodramatik ästhetisch in seichtere Gefilde der theatralen Menschenkunst. Aber zunächst zur Provokateurin Angélica Liddell.

Absage an die "Genderdebatte"

"Kunst ist dazu da, die Ordnung zu zerstören, auch die soziale Ordnung. Soziale Gerechtigkeit interessiert mich in der Kunst überhaupt nicht", sagt die spanische Künstlerin und fährt fort: "Die ganze Genderdebatte kümmert mich nicht, mir geht es um Liebe. Tragödie kann man nicht gendern, Kultur auch nicht, dieses ganze Thema langweilt mich."
Liddells "Liebestod", uraufgeführt in Avignon, will auf direktem Weg zum Mythos der Todessehnsucht aufschließen. Die Inszenierung feiert den Stier und den legendären Stierkämpfer Juan Belmonte, ist aber auch eine Publikumsbeschimpfung, sagt, dass eine Theokratie zu errichten sei, weil ein umfassendes Sicherheitsdenken in einer total rationalen Welt die Menschen in Idioten verwandelt habe, die ihre Rechte mästeten wie dereinst die Hausschweine.

Theaterritus in gewaltigen Bildern

Liddell sucht Inspirationen bei tiefsten Wagner-Mythen. "Liebestod" ist eine Beschwörung, eine Passion und Abrechnung mit einer Kultur, die den Kontakt zu ihren kultischen und mythologischen Quellen verloren hat. Ein Theaterritus in gewaltigen Bildern und heftigen Texten.
"Liebestod" ist ein Rausch in Worten und Bildern, aber vor allem auch das Eingeständnis des notwendigen Scheiterns der Künstlerin in einer apollinischen Vernunftskultur. Es ist die Trauerrede einer Ausnahmekünstlerin und in der von Regisseur Milo Rau initiierten Reihe "Histoires du Théâtre" der bislang persönlichste, der wichtigste Beitrag. Er ist völlig inkompatibel mit dem Anspruch, das Theater möge in sich selbst die Werte verkörpern, die es predigt. Denn es will ja nichts anderes mehr, als seinen Tod.

Ein futuristisches Märchen

Wo Liddell das Ende einer kraftlosen Zivilisation mit mythologischer Auszehrung erklärt, zeigt Nguyen das Scheitern der Technologiegläubigkeit unserer Welt in einem futuristischen Märchen. Während einer Sonnenfinsternis ist die Hälfte der Menschheit verschwunden.
Nun bemühen sich die Übriggebliebenen mit allerlei technologischen und sozialpädagogischen Mitteln darum, diesen ungeheuren Verlust zu bewältigen. Die vielen Menschen, die Nguyen für dieses sozialpädagogische Gesellschaftsfresko versammelt, stammen von der Straße und aus der Mitte der herkunftsdiversen französischen Gesellschaft.

Hoffnung auf Rückkehr

"Wir sehen auf der Bühne einen Ausschnitt der Welt", sagt die Regisseurin. "Ich will meine Stücke mit den Leuten der Straße erzählen und die finden wir in Sozialzentren. Da haben wir nach Menschen mit arabischer Herkunftskultur gesucht, junge und alte. Wir haben uns gesagt, wenn wir dieses moderne Märchen erzählen, dann nur mit diesen Leuten."
Spielort ist ein "Pflege und Trostzentrum". Dort nehmen die Menschen in einer Kabine eineinhalbminütige Videobotschaften für die Verschollenen auf, in der Hoffnung auf deren Rückkehr. Sie machen Familienaufstellungen, veranstalten Kochkurse für die Lieblingsgerichte der Verschwundenen. Und sie streiten viel und kulturbunt über die Strategien der Krisenbewältigung.

Requiem der Menschheit

Auch Nguyens Märchen "Fraternité conte fantastique" singt, nunmehr allerdings polyfon und im Multi-Kulti-Modus, ein Requiem der aktuellen Menschheit. Der wäre allerdings zu helfen, wenn ihr nur das Herz am rechten Fleck schlüge. Und natürlich erzählt das Stück einigermaßen melodramatisch in seinem hyperrealistischen Sozialzentrumsdekor eigentlich von der ganz aktuellen Unfähigkeit der emotionalen Bewältigung von Verlust und Trauer.
Nguyen glaubt letztlich, dass die Menschheit ein Problem hat, das mit Care-Arbeit zu lösen ist. Denn Technologien versagen reihenweise: Auch Memo, eine Technik, der man drei Erinnerungen an den geliebten Menschen anvertraut. Man verliert sie dabei allerdings aus dem Gedächtnis und bekommt dafür die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Ein beunruhigender Deal.
Nguyen verarbeitet hier auch posthumanistische Technologiegläubigkeit kalifornischer Provenienz, das digitales Weiterleben nach dem Hirntod - diesen Unsinn, in den gerade Milliardenbeträge investiert werden.
In Avignon sind mit diesen beiden Arbeiten zwei Pflöcke eingeschlagen worden. Es sind Marken für das, was Theater kann. Zwischen ihnen spannt sich allerdings ein Universum auf, das widersprüchlicher nicht sein könnte.

Das Festival in Avignon läuft noch bis zum 25. Juli.

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