Theater, das unter die Haut geht
Seit 2014 gibt es das Internationale Theatertreffen "Mostra Intercional do Teatro de Sao Paulo", und mit seinen risikoreichen Theaterformen ist es ziemlich einzigartig in Südamerika. Zu Gast war dieses Jahr auch das deutsche "Rimini Protokoll".
Bilder wie diese kann keine Bühne, kein Theater bieten – Bilder wie aus der "Vila Itororo", einer kleinen Geisterstadt mitten im Herzen der Metropole. Vor bald 100 Jahren entstand eine kleine Siedlung zu Füßen des Wohn-Tempels, den ein offensichtlich reichlich durchgeknallter Architekt entwarf; mit Säulen wie auf einer Akropolis "en miniature" und mit Interieur aus einem alten, damals schon verfallenen Theater der Stadt. Längst sind Hochhäuser, Wohntürme und Schnellstraßen um das Terrain herum gewachsen, das Straßen-Niveau jenseits der Mauern der "Vila Itororo" liegt mittlerweile über den Dächern der völlig maroden Gebäude. Durch dieses Ambiente, diese "Cidade Vodu", die Voodoo-Stadt, führt uns – ständig irre kichernd – Tod persönlich in der Produktion vom "Teatro dos Narradores", dem ‚Theater der Erzähler‘…
Texte und Materialien über die Sklaverei hat Regisseur Jose Fernando Azevedo montiert, und Haiti steht im Mittelpunkt, die Insel, deren Bevölkerung die Erinnerung an Sklaverei, Kolonialismus und Revolten in sich trägt – zwischen den zerfallenden Häusern erzählen sie davon.
Texte und Materialien über die Sklaverei hat Regisseur Jose Fernando Azevedo montiert, und Haiti steht im Mittelpunkt, die Insel, deren Bevölkerung die Erinnerung an Sklaverei, Kolonialismus und Revolten in sich trägt – zwischen den zerfallenden Häusern erzählen sie davon.
Ariane Vitale, vor Jahren kurzzeitig bei Frank Castorf an der Volksbühne in Berlin zu Gast, hat das Ruinen-Ensemble im Herzen der modernen Metropole ausgestattet als magischen Ort – "Cidade Vodu", eine Produktion aus Sao Paulo selbst, erarbeitet von einer Gruppe, die (wie jede in der Stadt) von Projekt zu Projekt und quasi ohne festen Wohnsitz agiert, ist zum Glanzstück des internationalen Festivals geworden.
Das Festival findet auch im Internet statt
Drei Achsen – sagt Antonio Araujo, Leiter von "Mostra Intercional do Teatro de Sao Paulo", bilden das Herz des Theater-Treffens: die Gastspiele und lokalen Produktionen selbst natürlich; aber auch die Gespräche über’s Theater, mit dem Publikum, mit Kritikern (die in brasilianischen Medien kaum nennenswerten Platz beanspruchen können und oft ins Internet abgewandert sind) sowie mit kunstsinnigen Zeitgenossen aus ganz anderen, durchaus ganz theaterfremden Bereichen. Was wollen kluge Geister vom Theater, die überhaupt nichts mit dessen Produktion zu tun haben, aber die Künste voran treiben? Araujos Konzept scheint sich zu bewähren im dritten Jahr; und so kann er auch beweisen, dass diese Mega-Stadt, die ja durchaus reich an unterschiedlichsten Formen von Theater und im Grunde unentwegt im Festival-Zustand ist, auch ein internationales Theatertreffen braucht, dass die ganze Welt ins Blickfeld nimmt. Über die Neugier und Offenheit des Publikums staunt gelegentlich aber Araujo selber.
Polnische Produktion über das Warschauer Ghetto
Den Auftakt zu Brasiliens Hymne hat der polnische Regisseur Krzystof Warlikowski wohl aus purer Freundlichkeit der reichlich kryptischen Produktion "(A)Polonia" beigefügt, mit der er schon 2008 das "Teatr Nowy" eröffnet hat, das "Neue Theater" in Warschau. Die Geschichte um Apolonia Machczinska, die Leben rettete im Warschauer Ghetto und wie Millionen andere in den Konzentrationslagern ermordet wurde, mischt Warlikowski extrem abstrakt und spekulativ mit antiken Fabeln – Agamemnon und Klytemnästra, Iphigenie, Elektra und Orest, außerdem Alkestis und Admetos, sollen wohl das Motiv des Opferns und Geopfert-Werdens beleuchten; allerdings verdunkelt sich die Fabel mehr und mehr, wie berührend zu Beginn auch die Erinnerung an den polnischen Lehrers Janusz Korczak gerät. Im zweiten Teil werden auch noch Franz Kafka und "Ein Bericht für eine Akademie" mit einbezogen.
Stücke aus Frankreich, Griechenland und Belgien
Das Publikum hält vier Stunden lang (brasilianisches Theater kommt oft mit ein bisschen mehr als einer aus…) und gibt sich sehr enthusiastisch; wie auch bei den Produktionen von Joel Pommerat aus Frankreich, dem extrem verrätselten "Stilleben" des Griechen Dimitris Papaioannou, beim belgischen Solo-Magier Josse de Pauw und Faustin Linyekula aus dem Kongo. Und doch – der Grad an Fremdheit bleibt absichtsvoll hoch; wird aber eben nicht mit Befremden bedacht.
Die literarische Identität Lateinamerikas
Auch die zweite brasilianische Produktion verrätselt die eigene Geschichte – Felipe Hirsch sucht nach einer Art literarischer Identität für Lateinamerika als Ganzes; und montiert darum die "Tragedia latina-americana" (als ersten Teil eines Mammutprojektes, das auch noch die "Comedia" umfassen wird!) ganz und gar aus theaterferner Literatur aus unterschiedlichsten Ländern. Diese Texte sind teils phantastisch, teils polemisch und gehen fast immer unter die Haut. Die Geschichte vom Geburtstag der Siebenjährigen, die bald darauf vergewaltigt wird und abtreibt, danach verstoßen und zur Hure und ermordet wird; die Geschichte vom Dorf, dessen Bewohner einander im kollektiven Wahn abschlachten; der Traum einer Frau, die in beginnender Demenz noch einmal von Radikalität und "anarchischer Sentimentalität" träumt.
Ein Festival, dass das Publikum bewegt
Tolle Texte, aber nur wenig Theater, trotz der Bühne aus monströsen Mengen von Styropor-Blöcken. Gerade neben so viel Kunst-Behauptung ist "100% Sao Paulo" dem Geist dieser verrückten Stadt erstaunlich nahe gekommen; Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel von "Rimini Protokoll" haben das seit 2008 weltweit bewährte Recherche-Format "100 % Stadt" in dieser politisch extrem aufgeheizten Stadt zum Ereignis werden lassen.
Denn weil politisch in Brasilien derart viel Spitz auf Knopf steht, hat die Meinungsbildung des hundertköpfigen Bevölkerungsquerschnitts auf der Bühne auch derart viel spontane Reaktion im Publikum ausgelöst. Eine Stadt erforscht den Zustand ihrer selbst – im Theater.