Der Intendant, der die zweite Geige spielt
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Der Chef packt selbst an: Am 27. Juli wird Festival-Intendant Oliver Wille die 74. Sommerlichen Musiktage Hitzacker eröffnen und selbst im ersten Konzert spielen. Das ist typisch für den Kulturmanager und Professor Wille, der immer vor allem eines ist – Musiker.
"Man kommt in einen idyllischen kleinen Ort, der zunächst etwas verschlafen zu sein scheint, es gibt enge Gassen mit Kopfsteinpflastern und Backsteinhäusern. Und dann gibt es dort dieses sommerliche Musikfestival."
Das sagt Oliver Wille über Hitzacker, jenen niedersächsischen Ort an der Elbe, in dem seit mehr als sieben Jahrzehnten die "Sommerlichen Musiktage" stattfinden. Bis heute sind sie geprägt vom Geist ihrer Gründerinnen und Gründer:
"Es existiert seit 74 Jahren, ein Festival, das 1946 von Flüchtlingen gegründet wurde, aus dem inneren Bedürfnis heraus, Musik miteinander zu machen, miteinander zu kommunizieren und Wege aus der ökonomischen und moralischen Misere herauszufinden."
Von musikalischer Früherziehung profitiert
Ohne eine Portion Glück wäre Oliver Wille womöglich nicht der erstklassige Musiker und Musikmanager geworden, der er heute ist. Er wuchs in der DDR auf und profitierte von musikalischer Früherziehung.
"Meine Eltern sind sehr musikalisch, sie sind Tänzer. Angeblich habe ich als Kind den ganzen Tag gesungen und beim Fahrradfahren im Wind Lieder erkannt. Da dachten meine Eltern: Mit dem stimmt irgendetwas nicht – und haben mich zur Musikschule geschickt, mit fünf."
Da es für das Wunschinstrument der Eltern, das Klavier, keine Plätze gab, lernte das Kind Geige – mit durchschlagendem Erfolg. Bald gehörte Oliver Wille zu den begabtesten Nachwuchsviolinisten, er ging nach Mauerfall und Wiedervereinigung in die USA.
"Man konnte in Deutschland nicht Streichquartett studieren. Wir sind deswegen nach Boston gegangen. Inzwischen kann man das, das hat wohl auch mit dem Bedürfnis der jungen Leute zu tun, Musik selbst zu entdecken, anstatt in großen Institutionen zu spielen."
Weniger Orchesterplätze als früher
Musik, sagt Wille, gehöre noch selbstbewusster gefördert. So sei unter den Exzellenz-Universitäten nie eine Musikhochschule. Obwohl sie es verdienten, denn sie seien es, die wirklich Hochkultur ausbildeten:
"Es geht der Nachwuchs nicht so an die Musikhochschulen, wie wir uns das wünschen. Das liegt an den Perspektiven. In 'Jugend musiziert' ist das Niveau teilweise sehr hoch, viele dieser jungen Menschen studieren aber nicht Musik, weil sie noch andere Talente haben."
Denn Orchester, traditionell Arbeitsplätze für Berufsmusiker, hätten nicht mehr so viele Plätze wie früher, auch würden große Klangkörper zusammengelegt. Und andere Initiativen, wie das Hamburger Ensemble "reflektor", böten nicht so viel Einkommen, dass ihre Mitglieder davon leben könnten. Dies sei ein Teufelskreis: Musikschulen zahlten zu schlecht, um gute Lehrer anzuziehen, die dafür sorgen könnten, dass der Wunsch, Musiker zu werden, schon in Kindern wachse.
Kinder sollen mit den Eltern singen
"Wenn etwas zuerst ausfällt in Schulen, ist es der Musikunterricht," kritisiert Wille. "Man muss den Prozess, junge Menschen an Musik heranzuführen, als professioneller Musiker immer wieder einfordern."
Die Berührung mit Klassik sollte natürlicher sein. Eltern könnten beispielsweise mit ihren Kindern singen, anstatt ihnen Tablets mit Spielen in die Hand zu drücken.
"In den Kindergärten muss gesungen werden, in den Schulen müssen Chöre gebildet werden. Das gibt es alles, es wird aber nicht als selbstverständlich wahrgenommen."
Zudem sei es wichtig, mit Kindern in Konzerte zu gehen. Dies müssten nicht nur Klassik- sondern könnten auch Jazz- oder andere Konzerte sein. Warum? Die Antwort sei einfach:
"Die Kultur ist das, was uns vom Tier unterscheidet."
(AB)