Festival mit Jazzanspruch und Kommerzwirklichkeit

Von Christian Gampert |
Lenny Kravitz, Chicago und Paul Simon - das waren die Zugpferde beim diesjährigen Jazzopen in Stuttgart. Von Jazz keine Spur. Den fand man in der Nacht in den kleinen Clubkonzerten, wo manch angenehme Überraschung auf einen wartete. Auf den großen Bühnen waren immerhin Jazz-Superstars wie Al Jarreau oder Nils Landgren zu erleben.
Ist das Jazz? Nein, das ist nur Lenny Kravitz. Straighte Rockmusik, die in die Beine geht. Auch schön. Aber nichts für höhere intellektuelle Ansprüche an Improvisation und Zusammenspiel, wie sie so ein Jazzfestival eigentlich bedienen sollte.

Lenny Kravitz bestritt in Stuttgart das Eröffnungskonzert und ließ sich von den Zuschauern auf Händen tragen - fast viertausend passen auf den Pariser Platz, und der war bei den Haupt-Acts doch ziemlich ausverkauft. Zum Beispiel auch bei diesem hier:

Ist das Jazz? Auch nicht so richtig. Aber ein gut schiebender Bläsersatz, das macht schon was her. "The Chicago Transit Authority", wie "Chicago" mit vollem Namen heißt, ist mit diesem Markenzeichen Anfang der 1970er Jahre in die Charts gestürmt, und fast vierzig Jahre danach verwalten immerhin noch drei Mitglieder der Originalbesetzung das Erbe, oder, positiver gesagt: sie halten es frisch. Der Keyboarder Robert Lamm, der Trompeter Lee Loughnane und der Posaunist James Pankow hatten auf der Bühne immer noch jede Menge Spaß; der Rest ist gut ausgebildetes Personal der jüngeren Generation, das in die Rollen der Alten schlüpft - der (auch schon 1985 eingestiegene) Bassist Jason Scheff singt die Edelschnulze "It's hard to say I'm sorry" fast mit demselben Schmelz wie früher Peter Cetera.

Die Stuttgarter JazzOpen sind also offen wie ein Scheunentor, in das jeder halbwegs gut bestückte Erntewagen der Rockgeschichte einfahren darf. Damit liegen sie im Trend auch anderer Jazzfestivals, die sich immer mehr dem Kommerz und dem Pop öffnen; allerdings treibt man es in Stuttgart besonders krass. Etwas zynisch könnte man sagen: die Jazz Open sind eine Ansammlung von Großkonzerten, bei denen die Generation der heute 50- bis 60-Jährigen sich noch mal nostalgisch die Füße vertritt und enthusiasmiert den alten Zeiten nachlauscht.

Denn, Verzeihung, was haben Paul Simon oder eine 80er-Jahre-Hitparaden-Band wie "Level 42" auf einem Jazzfestival verloren? Eigentlich gar nichts, sie ziehen halt Publikum. Sicher, Paul Simon ist einer der größten Songwriter der Popgeschichte, und natürlich verwendet er jede Menge jazziges Material - aber das allein reicht als Legitimation nicht aus.

Jazz, das war einmal weitgehend improvisierte Musik über zumeist kompliziertes harmonisches Material - die bis ins Letzte durchgestylten Auftritte einer Band wie "Chicago", die sich selber covert, sind das pure Gegenteil.

Dass es auch anders geht, bewies der Schlagzeuger Manu Katché, der als Studiomusiker sein Geld bei so anrüchigen Gestalten wie Eros Ramazotti verdient und auf fast allen großen Popproduktionen dabei ist. Mit seiner eigenen Band spielte er in Stuttgart lyrische, intellektuelle Musik über ganz dichte, fein strukturierte und oft überraschende Perkussionsmuster, mit allen Freiheiten für zwei virtuose Bläser und den Pianisten Marcin Wasilewski, die auch mal wild ausbrechen dürfen.

Katché war nur die Vorgruppe für Diana Krall, die mit einer Reihe klassischer Swingnummern auftrat, Nat King Cole, Cole Porter - und damit auch ein Massenpublikum begeistern kann. Als Pianistin beschränkt sie sich meist auf atmosphärische Cluster, aber sie hat eben Sex in der Stimme. Und der Bassist Robert Hurst und der Gitarrist Anthony Watson spazierten mit einer Leichtigkeit durch die Rhythm Changes, als wollten sie für künftige Generationen den Maßstab setzen ...

Die Wunder eines solchen Festivals aber ereignen sich nachts, wenn man sich im "Bix Jazzclub" trifft. Dort trat, mitten in der Woche, die erst 23-jährige amerikanische Bassistin und Sängerin Esperanza Spalding auf. Durch ein Sozialprogramm für arme Leute zum Geigenspiel gekommen, stieg sie in der Pubertät auf den Kontrabass um - und hat auf diesem Instrument in wenigen Jahren eine solche (rhythmisch immer wieder überraschende) Virtuosität erreicht, dass ihre Homepage auf Youtube zum absoluten Geheimtipp wurde. Vor allem ist ihr Bassspiel völlig losgelöst vom kontrapunktisch gesetzten, oft scat-artig eingesetzten Gesang - ein Nachtkonzert, das den Beginn einer Europa-Karriere bedeuten könnte. Mitschneiden natürlich verboten.

Die Presse-CD ist leider viel gefälliger und südamerikanischer arrangiert als das, was sich da live abspielte und was mehr mit den afrikanischen Wurzeln zu tun hatte - ersatzweise kann man bei Youtube hereinhören.

Der Schluss war versöhnlich: auf den Vokal-Schmeichler Al Jarreau können sich sowieso alle einigen, und am Abend zuvor taten sich die "Jazz Crusaders" und Nils Landgrens "Funk Unit" zu einem zweieinhalbstündigen Intensivsitzung zusammen. Wobei sich dann gnadenlos herausstellte, dass Joe Sample und seine Crusaders immer noch für das auf das Wesentliche reduzierte, hochkonzentrierte Spiel stehen, während Landgrens Band doch sehr gerne Party macht und es dann richtig krachen lässt.

Allerdings schien Landgren selber (als Gast bei den Crusaders) anfangs ziemlich angeschlagen vom Tod seines Freundes, des Pianisten Esbjörn Svensson. Aber Landgren riss sich zusammen, spielte auf der Posaune gediegene Bläserthemen mit dem Saxer Winton Felder und sang uns den funkigen Blues.

Ist das Jazz? Na, egal, es groovte ziemlich gut an diesem Abend, Joe Sample erzählte Geschichten aus den 1960er Jahren, der Anfangs-Phase der Band, als man sich in Las Vegas verdingte und bei einer Aufnahme-Session in einer Garage den Boxer Joe Louis traf.

Sample erzählte auch, dass er damals leider keine Zeit hatte, sich in den freieren Jazzformen fortzubilden wie Charlie Parker oder Ornette Coleman - er musste immer spielen, und er sei nun mal für Gospel, Soul und Funk zuständig.

Sample ist der gute Großvater des rockigen Jazz, er macht sein Ding, und er sagt dem Publikum: Put it where you want it - ihr werdet damit schon was anfangen können.