Festival „Radikal jung“

Starker Theater-Nachwuchs

Festival Radikal jung 2015, Szene aus "Orpheus"
„Radikal jung“ 2015: Szene aus „Orpheus“ © Edy Szekely
Von Sven Ricklefs |
Das Festival „Radikal jung“ präsentiert noch bis zum 25. April Inszenierungen junger Regisseure am Münchner Volkstheater. Im Blickpunkt: Orpheus als stummes Tanztheater und der gelähmte Schauspieler Samuel Koch als „Prinz von Homburg“.
Da deklamiert eine über zehn Minuten lang Parfümmarken, zelebriert genüsslich Namen wie Cool Water, Davidoff, Eternity... und ruft Assoziationen von Düften in den Köpfen des Publikums wach, Düften, mit denen wir alle täglich versuchen, uns die perfekte, individuelle Note zu geben. In einer anderen Ecke probiert sich einer daran, in die zumeist ziemlich absonderlichen Posen hineinzufühlen, die er in dem Männerhochglanzlifestylemagazin, in dem er blättert, von professionellen Models vorgeführt bekommt.
Zwischen vier immer wieder verschiebbaren Spiegelwänden hat Alexander Giesche sein – wie er es nennt – „Visual Poem“ inszeniert, das unter dem Titel „Der Perfekte Mensch“ in kleinen Szenen und mit assoziativen Bildern dem Perfektionsdrang einer modernen Welt nachspürt.
Alexander Giesche brilliert mit einem „Visual Poem“
Der 1982 geborene Giesche, der in der Konzeptschmiede der deutschen Theaterwelt, am Institut für angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, studiert hat, war zwei Jahre lang „Artist in Residence“ am Bremer Theater. Und hier, wo der Regisseur in weitgehender Freiheit eine ganze Reihe von Performances erarbeiten konnte, ist auch der „Perfekte Mensch“ entstanden.
Dass Kilian Engels, der Leiter von „Radikal jung“, dieses „Visual Poem“ nun als Auftakt seines Festivals gesetzt hat, ist sicherlich ein Statement dafür, wie wichtig inzwischen performative Ansätze im Stadt- und Staatstheater geworden sind und dass „Radikal jung“ seinem Namen entsprechend bereit ist, diese Entwicklung mitzugehen.
Kilian Engels: „Was man in dem Fall auch sieht, es gibt nicht mehr den Regisseur, die Regisseurin, wie man es vor ein paar Jahren noch hatte, die eine Lesart auf eine Bühne bringt und die dann davon ausgehen, dass die dann auch vom Publikum gelesen wird, also die klassische Regietheatersache. Es gibt vermehrt Leute, die sagen, ich konfrontiere meine Akteure mit etwas und gucke dann, was sich bei denen daraus entwickelt, ich steuere den Prozess eigentlich nur. Da ändert sich was, glaube ich, also was Autorenschaft angeht, was ... dieser Begriff des Kollektivs, der jetzt mal nicht politisch gemeint ist, sondern bei dem es um die Position der Regie und was Regieführen heißt geht, und da kann man jetzt ein paar durchgehen und sagen, da gibt's ein paar kollektive Formen.“
Ein einziger Klassiker neben acht Uraufführungen beim diesjährigen „Radikal jung“: darunter neben dem „Visual Poem“ eine Konzertperformance oder ein stummes Tanztheater, das sich im Stillstand probiert. So radikal wie selten setzt das nun elfte Münchner Festival auf unmittelbar Zeitgenössisches.
Szene: Und von diesem Tag an war Abulkasem ein fester Begriff. „Gib zu, Abulkasem ist ein geiler Name“ wurde bald zu: „Gib zu, Abulkasem ist geil“ und das wiederum zu: „Gib zu, Abulkasem!“
Depressive zeigen Resignation als eine Vorstufe des Todes
Da spürt die schnelle und kurzweilige Kölner Inszenierung von Pinar Karabulut den ebenso bedrohlichen wie phantastischen Wandlungen nach, die ein arabisch klingender Name in unseren klischeebeladenen Phantasien durchlaufen kann: „Invasion“ heißt das Stück des schwedischen Autors Jonas Hassem Khemiri. Da zeigt der zum zweiten Mal zum Festival eingeladene Ersan Mondtag seine völlig stumme Variation über den Orpheus-Mythos, in der zutiefst depressive Figuren in skeletthaften Ganzkörper-Suits Resignation als eine Vorstufe des Todes zeigen. Das hat nichts mehr mit der Romeo und Julia-Seligkeit der frühen Jahre von „Radikal jung“ zu tun, in der die Klassiker ihr Schaulaufen hatten und jedes Jahr mindestens ein Shakespeare dabei war.
Kilian Engels: „Viele von den Ästhetiken inklusive den performativen und auch den konventionelleren haben damit zu tun, dass man sich bewusst ist, dass man Realität konstruiert und auch ein Publikum hat, das sich bewusst ist, dass es konstruierter Realität zuguckt, und man spielt eben mit der Konstruktion von Realität und da ist das Theater eine sehr zeitgemäße und lohnenswerte Form der Kunst, dass es diese Mechanismen nutzen und zugleich offen legen kann und idealer Weise passiert das gleichzeitig.“
Theater, das Verzweiflung und Hilflosigkeit spürbar macht
Berührender Höhepunkt bisher auf gut der Hälfte des Festivals: die Konzertperformance R+J, ein Gastspiel aus der Ukraine von Sashko Brama. R+J variiert das klassische Romeo und Julia-Motiv für eine Liebesgeschichte zwischen Ost und West in einem durch den Bürgerkrieg zutiefst gespaltenen Land: eine Sängerin, ein Sänger, die ihre Not im Hardcore-Metall-Sound herausschreien, während im Hintergrund auf einer Leinwand im schnellen Schnitt dokumentarisches Material etwa vom Maidan während der Proteste im letzten Jahr gezeigt wird. Theater, dessen Intensität die Verzweiflung und Hilflosigkeit spürbar macht, mit der gerade auch eine junge Generation dem brutalen Lauf der Geschichte gegenübersteht.
Und noch einem brisanten Thema widmet sich „Radikal jung“ in diesem Jahr: dem der Inklusion. Gleich drei Produktionen dazu sind nun in den letzten Tagen des Festivals zu sehen: Da hat Juliane Kann in ihrem Darmstädter „Prinz von Homburg“ die Titelrolle mit dem Schauspieler Samuel Koch besetzt, der seit seinem schweren Unfall vor laufender Kamera bei „Wetten dass ..?“ querschnittsgelähmt ist. Und das Kollektiv Monstertruck zeigt gleich zwei Produktionen, die in ihrem bewusst ambivalenten Umgang mit ihren Performern mit Down-Syndrom ihre Finger tief in die Wunden von Klischees und gesellschaftlichen Schwierigkeiten legen und damit zeigen, wie weit wir noch von tatsächlicher Inklusion im Sinne von gesellschaftlicher Teilhabe entfernt sind. Es bleibt spannend.
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