"Fetischisierung des Wandels" in Indien

Altaf Tyrewala im Gespräch mit Britta Bürger · 24.11.2011
Mit dem Roman "Kein Gott in Sicht" wurde Altaf Tyrewala 2006 bekannt, zur Zeit ist er Stipendiat in Berlin. In seiner Heimatstadt Mumbai registriert der indische Autor die Folgen des wachsenden Wohlstands: Geldgier, Hass und Ghettoisierung.
Britta Bürger: Die Texte des indischen Schriftstellers Altaf Tyrewala stehen im Gegensatz zu den opulenten Romanen, die die indische Literatur auf dem internationalen Buchmarkt repräsentieren. "Kein Gott in Sicht" hieß der Debüt-Roman des heute Mitte 30-jährigen Tyrewala, in dem er die extrem unterschiedlichen Lebenswelten der Bewohner Mumbais in 40 verschiedenen Stimmen kontrastiert. Hören wir zwei dieser Stimmen: Das Ehepaar Khwaja.

Mrs. Khwaja: "Früher war ich Dichterin und hing tagelang winzigen Metaphern nach. Jetzt koche ich den ganzen Tag für Ubaid und Minaz, gebe die Tausender aus, die ihr Vater jeden Monat nach Hause bringt, und starre geistesabwesend auf den Fernseher. Ich habe nichts mehr zu sagen. Das Summen klimatisierter Räume und Fernsehsendungen rund um die Uhr haben mich zum Schweigen gebracht."

Mr. Khwaja: "Vor 26 Jahren habe ich eine mittelmäßige Dichterin geheiratet. Sie schenkte mir zwei Kinder – einen Sohn, der jede wache Minute im Internet hängt, und eine Tochter, die nie zu Hause ist. Wir leben zusammen und sind immer noch verheiratet, die Frau und ich. Das Poetische in unserem Leben ist verschwunden. Ich kenne sie nicht mehr."

Britta Bürger: Stimmen aus Mumbai verdichtet der Schriftsteller Altaf Tyrewala in seinen Texten, hier in einem Auszug aus seinem 2006 erschienenen Debüt-Roman "Kein Gott in Sicht". Herr Tyrewala, herzlich willkommen im "Radiofeuilleton".

Altaf Tyrewala: Vielen Dank! I like to be here, thanks!

Bürger: Ein Mann, der seine Frau nicht mehr kennt, jene Dichterin, die durch das Summen der Klimaanlagen und Fernseher zum Schweigen gebracht worden ist, Altaf Tyrewala, ist diese erfundene Dichterin eine ihrer inneren Stimmen? Spüren Sie auch die Gefahr, dass das moderne Mumbai Sie möglicherweise zum Schweigen bringt?

Tyrewala: Die Stadt Mumbai, wie sie sich jetzt entwickelt, bietet körperlich und geistig einfach nicht mehr den Raum, den man braucht, um Dichtung sich entfalten zu lassen. Und die Dichterin, von der Sie sprechen, ist auch in der Tat so eine Art Vorläuferin dessen, was der Stadt noch bevorsteht.

Bürger: Aber Mumbai ist doch auch die Stadt, die Sie bislang am allermeisten zum Schreiben inspiriert hat?

Tyrewala: Ja, unbedingt, aber das war auch ein anderes Mumbai. Ich war kürzlich wieder einen Monat dort, ich habe das alte Gewebe der Stadt nicht mehr wiedergefunden. Ich spürte keine innere Verwandtschaft mehr mit dieser Stadt, die ist nicht mehr die selbe, die sie mal gewesen ist.

Bürger: Beschreiben Sie uns diese Veränderungen.

Tyrewala: Ganz vieles hat sich verändert. Vielleicht ist das Auffälligste die Veränderung der städtischen Landschaft. Das menschliche Maß, das es früher gab, ist sozusagen verloren gegangen. Es findet eine Fetischisierung des Wandels und eine Hymne auf die Moderne statt – eine Hymne, die nichts mehr mit unserer Herkunft, mit unserer Kultur und Vergangenheit zu tun hat. Unter den vielen Wandlungsprozessen ist wahrscheinlich der größte Wandel der, dass das Geld jetzt eigentlich nie mehr ausreicht. Man hat ständig das Gefühl, je mehr Geld man hineinpumpt, desto mehr Geld braucht man auch, und der Mensch bleibt sozusagen dann außen vor. Es ist keine Umwelt mehr, in der man sich als Mensch wohlfühlt.

Bürger: Sie wurden in einer liberalen muslimischen Familie geboren, gehören somit zu einer der vielen religiösen Minderheiten des Landes. Inwieweit bestimmt das Ihr Leben in Mumbai, selbst wenn Sie jetzt nicht besonders religiös leben?

Tyrewala: Ja, wissen Sie, je älter ich werde, desto schwerer fällt es mir, solche Fragen zu beantworten. Der Wohlstand wächst, und da möchte eben jeder irgendwie daran teilnehmen. Nun hätte man hoffen können, dass mit wachsendem Wohlstand auch diese Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen und religiösen Minderheiten verschwinden würden, aber das Gegenteil ist der Fall. Es wird geradezu darauf herumgeritten, dass man diese Grenzen einhält. Diejenigen, die die Mehrheit stellen, halten zunehmend es für ihr angeborenes, gottgegebenes Recht, jetzt auf die anderen herabzusehen.

Die Vorurteile werden bekräftigt, es gibt tatsächlich eine Bestärkung in diesen Grundhaltungen des Hasses auf die anderen. Die Diskriminierung und die Ghettoisierung nehmen zu, und das alles führt eben zu einer stärkeren Grenzziehung zwischen den einzelnen Gruppen, wobei jede Gruppe wegen des höheren erreichten Wohlstands sich eigentlich ganz wohl damit fühlt. Aber es gilt eben: Zwischen Hindus und Muslimen werden die Grenzen fester, es gibt keine Aussicht darauf, dass die Grenzen sozusagen verschwimmen würden.

Bürger: Der indische Schriftsteller Altaf Tyrewala ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Derzeit schreibt er als DAAD-Stipendiat in Berlin an seinem zweiten und sogar an seinem dritten Roman, und wieder soll der Schauplatz seine Geburtsstadt Mumbai sein. Wie reagiert oder wie agiert die Politik inmitten all dieser Konflikte? Wen vertritt die indische Regierung? Immerhin handelt es sich um die größte Demokratie der Welt.

Tyrewala: Tja, das ist eine harte Nuss, die Sie mir da vorlegen, denn die indische Regierung ist mehr als alle anderen Regierungen durch Wirtschaftsfachleute geprägt. Es sind eigentlich nicht mehr Politiker oder Verwaltungsfachleute, die die Regierungen stellen, sondern Betriebswirte, Volkswirte, die im Wesentlichen ihre Einsichten aus Washington zu beziehen scheinen, die sich irgendwie anzupassen scheinen an das, was in der Weltwirtschaftspolitik geschieht.

Man hätte ja gehofft, dass sie wenigstens noch die indische Geschäftswelt vertreten, aber selbst das ist nicht mehr der Fall. Wen die indische Regierung vertritt, das ist wirklich ein Rätsel. Man kann darauf keine eindeutige Antwort geben. Es sieht so aus, als gäbe es da eine echte Kluft zwischen der Politik einerseits und dem Alltagsleben der Menschen andererseits, und diese Kluft wird schlimmer von Tag zu Tag.

Bürger:Gibt es eine freie Presse, die diese Kluft spiegelt, die all die vorhandenen Schattenseiten beim Namen nennt?

Tyrewala: Tja, Ich würde die indische Presse nicht im eigentlichen Sinne frei nennen, sondern außer Kontrolle, wie die meisten anderen Dinge in Indien auch. Die Regierung würde es natürlich gerne sehen, wenn sie Kontrolle über die Presse ausüben könnte. Aber das geht ja gar nicht angesichts der vielen Sprachen, die in den unterschiedlichen Bundesstaaten gesprochen werden, ist die Medienlandschaft ja vollkommen zersplittert. Es ist also außerordentlich schwer, hier eine Propaganda der Regierung zu verbreiten.

Wenn man über freie Presse oder Presse spricht, hat man es sofort mit Unternehmen zu tun. Und da, wo Unternehmen sind, ist immer auch Gewinnabsicht vorhanden. Es gibt also im strengen Sinn auch keine Freiheit in der Presse. Sehr wohl gibt es aber lebendige, lebhafte, spannende Debatten in der indischen Medienlandschaft, vor allem im Fernsehen, ich würde aber sagen, die Menschen gehen dort noch gar nicht weit genug. Sie gehen noch nicht so weit, dass sie das Übel wirklich an der Wurzel packen.

Bürger: Ist das also die Aufgabe der Künstler?

Tyrewala: So sollte es sein, aber in einem Land wie Indien ist es heute zu gefährlich, diese Aufgabe des Künstlers zu erfüllen, denn wenn man wirklich ganz in die Tiefe geht, dann kommt man auf schmutzige Geheimnisse, und man wird feststellen, dass die Regierung einen dann nicht mehr beschützt, wenn man dieses verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerung ausübt. Aus diesem Grund erlegen sich die Künstler Indiens sozusagen eine innere Zensur, eine geistige Schere auf, und es wäre einfach zu schmerzhaft, zu aufwühlend, wenn man diese Wahrheit wirklich so erzählte.

Bürger: Wo setzt Ihre innere Schere an?

Tyrewala: Diese Schere gibt es unbedingt auch in mir. Das habe ich gemerkt, als ich Indien das letzte Mal verlassen haben, als ich zunächst mal dann zwei Monate in Boston lebte, habe ich gemerkt, wie stark ich mich schon dieser inneren Schere unterworfen habe in meinem Schreiben, weil einfach diese Enthüllungen zu schmerzhaft wären. Und es war für mich wirklich eine Offenbarung zu sehen, wie stark ich unter dem Einfluss der Angst geschrieben hatte, dass man einfach immer nur sagt, was man eigentlich sagen könnte. Das ist schon eine Art innere Zensur, und das bedeutet eben, dass man als Künstler jedes einzelne Wort auf die Goldwaage legt und sagt: Kann ich das noch schreiben oder gehört es schon zum Unsagbaren?

In meinem jetzigen Vorhaben, "Schnitte" oder "Cutting", geht es um genau dieses Thema. Ich weiß nicht, wie künstlerisch wertvoll dann das Ergebnis sein wird, aber der Grundimpuls ist doch ein Schrei nach Freiheit, im Grunde ein großes Aufbrüllen aus der Gefangenschaft heraus. Es wird hässlich sein, es wird wirklich nicht leicht zu verdauen sein, es wird politisch inkorrekt und gotteslästerlich sein, aber es ist genau das, was ich jetzt tun muss.

Bürger: Der indische Schriftsteller Altaf Tyrewala. Zurzeit lebt er als DAAD-Stipendiat in Berlin. Thank you very much for being with us!

Tyrewala: Vielen Dank! Thank you!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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