Fetzt
Unglaublich aber wahr, der Senat von Berlin leistete sich mal einen Rockmusik-Beauftragten, allerdings ist dies schon lange her, nämlich Anfang der 80er Jahre. Lutz Manthe ist inzwischen 55 Jahre, aber vom Rockmusikvirus nach wie vor befallen.
Heute ist er Projektkoordinator des Berliner Rock & Pop Archivs mit einem Bestand von über 10.000 Platten und Tonträger sowie 30.000 weiteren Objekten zur Berliner Rockgeschichte. Raritäten von Musikern und Bands, deren Karriere von Berlin aus ihren Ausgang nahm, wie Tangerine Dream, Ideal, Rio Reiser, Interzone, Nina Hagen und Die Puhdys stehen in diesem Archiv allen Interessierten zur Verfügung.
Berlin in den 50er Jahren. Noch ist es eine Stadt, wenngleich in Ost- und Westsektoren geteilt. Aufbau hüben und drüben, Suche nach einem neuen Lebensgefühl drüben wie hüben. Die Kultur kennt keine Sektorengrenzen, aber auf beiden Seiten sehen sich staatliche Autoritäten bedroht – durch Rock 'n' Roll.
Aus Westberlin kommt Ted Herold, der sich bemüht dem Rock 'n’ Roll von Elvis möglichst nahe zu kommen.
So klingt Ende der 50er Jahre der "Untergang des Abendlandes", zumindest nach Meinung der Elterngeneration, die befürchtet, ihre Buben und Mädchen beziehungsweise Teenager, wie das jetzt ja heißt, nicht mehr zur Raison bringen zu können. Die Ostberliner Jugend hört auch RIAS und AFN, beides amerikanische Rundfunksender.
So dringen neben Elvis und Bill Haley Chuck Berry, Fats Domino und Little Richard in das musikalische Bewusstsein der jungen Hörer. Und außerdem können die Berliner in den 50er Jahren ungehindert die Sektoren wechseln und das Beste auf beiden Seiten genießen. So verläuft die musikalische Sozialisation der Jugend in dieser Zeit zumindest in Berlin parallel. Und auch den Mode- und Konsum-Verlockungen der Wirtschaftswunderzeit erliegt man auf beiden Seiten.
Enge Levis-Jeans, kurze Lederjacke und die so genannte Wella-Form-Frisur, kurz und nach oben gegelt. Kein Wunder, dass der Friseur damals häufig fragt, ob man einen Haarschnitt oder einen Ölwechsel haben möchte.
Die Ost-Antwort auf den Rock 'n’ Roll, der "Lipsi", fällt so unbeholfen aus, dass er bald wieder von der Tanzfläche verschwindet.
Im Osten wird begierig aufgegriffen und verarbeitet, was da aus dem Westen kommt. Dennoch bildet sich – politisch so gewollt - eine eigenständige musikalische Entwicklung vor allem in Ostberlin aus. Der Beat ist die alles bestimmende Musikrichtung der 60er Jahre.
1961 stellt sich die Berliner Mauer den Menschen in den Weg, den Rundfunkempfang kann sie nicht unterbrechen. Auch in Ostberlin sind Rias und SFB, AFN und BBC bestens zu empfangen. Die neue Beatmusik, die jetzt über den Äther geschickt wird, löst eine noch nie da gewesene Musikbegeisterung aus, insbesondere für die Beatles.
Etliche Jugendliche greifen zur Gitarre, gründen eigene Bands und wollen es ihren Idolen aus Liverpool gleich tun. Von nun an bewegt sich die Rockmusik in der DDR bis zu ihrem Ende zwischen Aufmüpfigkeit, knallharter Repression und Anpassung. In Ostberlin erscheinen Beatles-Platten, und zugleich erklärt Parteichef Ulbricht beispielhaft auf dem 11. Plenum der SED im Dezember 1965:
"Ich bin der Meinung, Genossen, mit der Monotonie des 'Yeah, Yeah, Yeah' und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen. Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, kopieren müssen?"
Zahlreiche Beatbands werden ab Mitte der 60er Jahre in der DDR verboten, vor allem die lebendige Szene in Ostberlin dünnt sich stark aus. Wer keine Spielerlaubnis hat, darf offiziell nicht auftreten. Die Band Team 4 nennt sich jetzt Thomas Natschinski und seine Gruppe, denn Anglizismen müssen eingedeutscht werden, und: es werden deutsche Texte verlangt! Erstaunlich gut meistert Natschinskis Band den Spagat zwischen staatlicher Gängelung und der Entwicklung eines eigenständigen musikalischen Konzepts. Dass Beatsongs auch auf Deutsch funktionieren, haben DDR-Bands bewiesen.
Im westlichen Teil Berlins versuchen die Lords, die sich als Schülerband im Nobelortsteil Berlin-Grunewald gründen, den Beatles Konkurrenz zu machen. Just zu dieser Zeit entwickelt der Westberliner Senat ein Herz für die musikbegeisterten Jugendlichen, denn durch die Mauer hat sich die Isolation Westberlins stark verschärft.
Die eingezäunte Stadt muss aber attraktiv bleiben, insbesondere für junge Menschen, nur sie können Westberlin eine Perspektive geben. Aus der BRD fließen Milliarden-Subventionen in die Inselstadt, davon profitieren auch die Talente. Die Lords gewinnen das "Goldene Waschbrett", ein Wettbewerb den der Berliner Senat stiftet; daraufhin gibt es noch einmal Geld für Tourneen. Auf diese Weise werden die Lords die beliebteste Beatband der BRD. Die Beatles-Frisur erinnert bei ihnen allerdings an Wischmop-Perücken. Ihr größter Hit "Glory Land" entwickelt sich schnell zur Lieblingsnummer von Kegelbrüdern und heimkehrenden Bundeswehrsoldaten. So war die deutsche Beatband Nr. 1 hauptsächlich etwas für Schützenfeste und Schunkelgesellschaften.
Die 1968er Bewegung mit Rudi Dutschke und Kommune 1 generiert in Westberlin eine völlig eigenständige Musikrichtung. Berlin wird Zentrum des Krautrocks mit internationaler Ausrichtung.
Vom Sog dieser allgemeinen Aufbruchstimmung profitiert auch die Popmusik in Westberlin. Als gemeinschaftliches Ereignis und damit direkt aus den Idealen ihres Berliner Kommunardenlebens entnommen, kreieren Bands wie Ash Ra Tempel und Tangerine Dream psychedelisch-experimentelle Musik, die den Anspruch erhebt "kosmisch" zu sein.
"Wir wollen schöne Musik schaffen, die sich von den Affekten des Hasses, der Aggression und der Verzweiflung löst und dem Zuhörer Freude und Hoffnung gibt; Musik, die den Menschen zurückholt in den Zustand der Unschuld und den Zusammenklang der kosmischen Harmonie."
Zur Stimulation der außerirdischen Klänge fliegt auch der amerikanische LSD-Guru Timothy Leary nach Berlin. Zusammen mit Ash Ra Tempel produziert er eine Langspielplatte und versorgt die Musiker mit "kosmischem Wasser". Entsprechend angetörnt entstehen Stücke wie "Lord Krishna" und "Der Magier".
Doch insbesondere Tangerine Dream verfeinern ihr Synthesizer-Gewaber derart gekonnt, dass sie Anhänger in ganz Europa finden. In Großbritannien spricht man sarkastisch und doch bewundernd von "Krautrock". Immerhin gehört die Band mit ihrem ausgedehnten, schwebenden Klangflächen zu den Pionieren der Synthesizer-Musik. In Deutschland wird Tangerine Dream nur von Exoten wahrgenommen, doch in London begeistern sie ihr Publikum in der ausverkauften Royal Albert Hall.
Die Ostberliner Bands Karat, Puhdys und City etablieren eine völlig eigenständige, originäre Musikrichtung. Die 70er Jahre werden zum Goldenen Zeitalter des DDR-Rock.
Der Machtwechsel von Ulbricht auf Honecker 1971 sorgt zunächst für eine kulturpolitische Entspannung. Bei den X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten im Sommer 1973 präsentiert sich Ostberlin als weltoffene Musikstadt. Neben zahlreichen internationalen Bands spielen 200 einheimische Gruppen in Klubs und auf Open-Air-Bühnen der DDR-Hauptstadt. Das verheißungsvolle Lied "Ketten werden knapper" der Klaus Renft Combo entwickelt sich zur Festivalhymne. Im Aufwind dieses Festivalfiebers etablieren sich nun Bands, die durch ihre künstlerische Qualität ein Massenpublikum im Osten und im Westen finden. Drei der erfolgreichsten Gruppen kommen aus Berlin.
Als die Puhdys - fünf Absolventen der Tanzmusikklasse Berlin Friedrichshain - sich dazu durchringen, ihre Lieder mit deutschen Texten zu schreiben, werden sie auch in den DDR-Medien gespielt. "Wenn ein Mensch lebt" findet Eingang in den Kultfilm "Die Legende von Paul und Paula". Doch die Liebesgeschichte zwischen einer Verkäuferin und einem hohen Staatsbeamten erregte bei den Altvorderen der DDR-Obrigkeit Kritik. Pauls Dienst-Vorschriften lassen sich mit den Glücksvorstellungen der lebensbejahenden Paula kaum vereinbaren. Von der subtilen Systemkritik des Films profitieren auch die Puhdys, die sich so eine riesige Fangemeinde erobern.
Schon der Bandname "City" markiert das Bekenntnis zur Großstadt Berlin. Mit dem Lied "Am Fenster", dieser genialen Mischung aus kühler Melancholie und balkanischen Feuer, landet City vielleicht den größten Hit der DDR-Rockgeschichte. Nun dürfen die so genannten "Rolling Stones des Ostens" auch nach Westberlin reisen und singen vor ausverkauften Plätzen.
Musikalisch findet die Vereinigung Deutschlands schon Ende der 70er Jahre statt. Denn "Über 7 Brücken" von der Gruppe Karat wird in der Version von Peter Maffay auch im Westen ein riesengroßer Hit.
Trotz staatlicher Vorgaben gelingt vielen DDR-Bands die künstlerische Selbstverwirklichung. Experimentierfreude, deutsche Texte in anspruchsvoller Lyrik, melodische Opulenz und klanglicher Pathos sind die Kennzeichen des eigenständigen DDR-Rocks der 70er Jahre.
Westberlin wird Anfang der 70er Jahre zum Magnet für Aussteiger, Studenten, und Leuten mit alternativen Lebenskonzepten. Vor allem der Zonenrandbezirk Kreuzberg bietet den dort Gestrandeten ein billiges Wohn- und Arbeitsumfeld. Von hier geht mit Ton Steine Scherben eine in ganz Deutschland einflussreiche Agit-Rock-Band hervor. Politik und Klassenkampf werden Bestandteil der Rockmusik.
Auch wenn Rio Reiser für die meisten erst mit dem Song "Wenn ich König von Deutschland wär" bekannt wird, startet er seine eigentliche Karriere bereits in den 70er Jahren als Frontsänger der Polit-Rock-Band Ton Steine Scherben. Nur sind deren Songs so aufmüpfig, dass die Radiostationen sie wegen Verdachts auf Verfassungsfeindlichkeit nicht spielen.
"Musik kann zur gemeinsamen Waffe werden, wenn du auf der Seite der Leute stehst, für die du Musik machst. Wenn Du mit Deinen Texten etwas sagst und eine Situation nennst, die zwar alle kennen, die aber jeder vereinzelt in sich hineingefressen hat, dann werden alle hören, dass sie nicht die einzigen sind, die damit noch nicht fertig geworden sind, und Du kannst ihnen eine Möglichkeit zur Veränderung zeigen."
Sagt Rio Reiser und daher können Konzerte auch in Aktionen übergehen. Nach einem Auftritt in der Berliner TU 1971 ruft Reiser dazu auf, das leerstehende Bethanien-Haus in Kreuzberg zu besetzen. Es ist die erste Hausbesetzung in der Geschichte der BRD.
Ton Steine Scherben, "Keine Macht für niemand": "Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen, kommt zusammen Leute, lernt euch kennen, du bist nicht besser als der neben dir, keiner hat das Recht Menschen zu regieren. Im Süden, im Osten, im Norden, im Westen, es sind überall dieselben, die uns erpressen, in jeder Stadt und in jedem Land heißt die Parole von unserem Kampf: Keine Macht für niemand."
Rebellion, Radikalität, aber auch Glaubwürdigkeit zeichnen Ton Steine Scherben aus. Mit solchem Herzblut, mit solch innerer Überzeugung hatte bisher noch keine Band in Deutschland ihre künstlerische und vor allem politische Überzeugung rübergebracht. Ton Steine Scherben geben aber vor allem wichtige Impulse für die Entstehung einer neuen Szene.
In den 80er Jahren dominiert unter den Teenies und Kids die Neue Deutsche Welle. Wesentliche Impulse und Interpreten hierfür kommen aus Berlin und finden mit Nina Hagen den ersten und vielleicht einzigen Star im Westen, der aus dem Osten kommt.
Leitung des DDR Rundfunk: "Wir haben festgelegt, dass alle neu geschriebenen Titel von DDR-Autoren, die in die Richtung der Neuen Deutschen Welle gehen könnten, einer besonderen Prüfung unterzogen werden, damit die großen Verdienste unseres Landes um die Entwicklung einer deutschsprachigen Rockmusik nicht durch Abflachung hinsichtlich von Werken der Neuen Deutschen Welle zunichte gemacht werden."
In Ostberlin wird die Daumenschraube für viele Musiker mal wieder kräftig angezogen. Der DDR-Rundfunk unterzieht die Titel "einer besonderen Prüfung", die Staatsicherheit wirft den DDR-Musikern vor, "ihr gesamtes Auftreten an den Gepflogenheiten des westlichen Show-Geschäfts zu orientieren."
Dabei hat die DDR Anfang der 80er Jahre schon längst einen enormen Exodus an Talenten zu verschmerzen. Veronika Fischer, Holger Biege, Franz Bartzsch und viele mehr gehen in den Westen. Doch die ostdeutschen Stars sind im Westen weitgehend unbekannt und können sich hier nicht behaupten. Der Wechsel bedeutet häufig das Ende ihrer Karriere.
Nicht so bei Nina Hagen, sie hat zum Talent auch Glück. Mit frechem, intelligentem und nicht selten tabubrechendem Punkrock erobert sich die Nina Hagen Band von Westberlin aus eine neue Fangemeinde; treffend formuliert eine Jugendzeitschrift: "Wenn sie nicht wahnsinnig wird, ist sie die Beste."
Nina Hagen Band, "TV Glotzer": "Ich schalt die Glotze an, die Daltons, Waltons, jedermann. Ick glotz von Ost nach West. Ick kann mich gar nicht entscheiden, is alles so schön bunt hier."
Nina Hagens Manager, der Fotograf Jim Rakete, der von einem Kreuzberger Fabrik-Büro aus seine Stars navigiert, hat einen Riecher für den Nachwuchs.
"Wir saßen am Tisch, und dann kam Jim Rakete rein, ich holte meine Demo raus und irgendwie hat die Chemie gleich gestimmt. Das war sehr aufregend: Das Kleinstadtmädchen kommt nach Berlin und macht die große Karriere."
Erinnert sich Nena, die aus dem Sauerland nach Berlin reist, um ein Star zu werden. Zwar darf sie in Raketes Büro erst mal nur staubsaugen, doch dann produziert er mit ihr die erste Singel "Nur geträumt" – ein Blitzerfolg.
Berlin wird zum Zentrum des Techno, einer Musikrichtung, die nun die Fans im wiedervereinigten Berlin zusammenführt. Berlins Love Parade strahlt auf ganz Europa aus.
Die Öffnung der Mauer wird zur Initialzündung für eine sich schnell etablierende Clubkultur. Im maroden Ostberlin finden die Techno-Fans einen einmaligen Leerstand an Fabrikhallen und Gewerberäumen. So entstehen neue Spielorte und Locations. Aus allen Teilen Deutschlands strömen junge und kreative Leute in die Stadt und verwandeln Berlins Mitte und den Prenzlauer Berg in eine Hochburg der Subkultur. Die geringen Mieten und niedrige Lebenskosten der Wiedervereinigten Stadt wirken dabei wie ein Katalysator. Berlins neues musikalisches Markenzeichen ist die Techno- und Clubkultur. Der berühmteste Klub ist der Tresor, der ehemalige Kassenraum des Kaufhauses Wertheim hat den Kalten Krieg überlebt, weil er im Niemandsland der einstigen Mauer steht.
Berlin entwickelt sich aufgrund seiner äußerst lebendigen und kreativen Musikszene zur internationalen Drehscheibe der Popkultur
"Für mich ist Berlin dann doch die interessanteste Stadt der Welt. Es gibt mir unheimlich viel, kulturell ist es interessant, subkulturell ist es spannend, die Lebensqualität ist hoch."
Meint Gudrun Gut, die schon Anfang der 80er Jahren zu den Gründungsmitgliedern der Einstürzenden Neubauten gehört. Sie ist um die halbe Welt gereist, komponiert elektronische Songs und führt zwei eigene Plattenlabels. Wie wichtig gerade die umtriebigen Künstler für Berlin sind, zeigt sich schnell nach der Vereinigung. Westberlin verliert seine Subventionen und in der traditionellen Industrie verschwinden 250.000 Arbeitsplätze. Aber die Musikbranche boomt wie in keiner anderen deutschen Stadt.
Musik und Medien sind die neuen Lebensquellen des krisengeschüttelten Berlin. Keine andere Stadt kann auf ein so riesiges Potenzial an kreativen Köpfen zurückgreifen. Dass Berlin im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ein trendsetzendes kreatives Umfeld aufgebaut hat, zahlt sich nun aus. Musikfirmen wie Universal und MTV ziehen nach Kreuzberg, Deutschlands wichtigste Musikmesse, die Popkomm wechselt von Köln nach Berlin. 1800 Bands vom Blues bis Punk tummeln sich heute im Berliner Musikbiotop. Vor allem von den kleinen Plattenfirmen, die neue Künstler entdecken, sowie den zahleichen Clubs wollen die Großen des Business profitieren. Sie hoffen in Berlin die neusten Trends rechtzeitig zu erkennen. So ist mittlerweile die lebendige Musikszene der Stadt Berlins größte Bereicherung und Zukunftschance.
Berlin in den 50er Jahren. Noch ist es eine Stadt, wenngleich in Ost- und Westsektoren geteilt. Aufbau hüben und drüben, Suche nach einem neuen Lebensgefühl drüben wie hüben. Die Kultur kennt keine Sektorengrenzen, aber auf beiden Seiten sehen sich staatliche Autoritäten bedroht – durch Rock 'n' Roll.
Aus Westberlin kommt Ted Herold, der sich bemüht dem Rock 'n’ Roll von Elvis möglichst nahe zu kommen.
So klingt Ende der 50er Jahre der "Untergang des Abendlandes", zumindest nach Meinung der Elterngeneration, die befürchtet, ihre Buben und Mädchen beziehungsweise Teenager, wie das jetzt ja heißt, nicht mehr zur Raison bringen zu können. Die Ostberliner Jugend hört auch RIAS und AFN, beides amerikanische Rundfunksender.
So dringen neben Elvis und Bill Haley Chuck Berry, Fats Domino und Little Richard in das musikalische Bewusstsein der jungen Hörer. Und außerdem können die Berliner in den 50er Jahren ungehindert die Sektoren wechseln und das Beste auf beiden Seiten genießen. So verläuft die musikalische Sozialisation der Jugend in dieser Zeit zumindest in Berlin parallel. Und auch den Mode- und Konsum-Verlockungen der Wirtschaftswunderzeit erliegt man auf beiden Seiten.
Enge Levis-Jeans, kurze Lederjacke und die so genannte Wella-Form-Frisur, kurz und nach oben gegelt. Kein Wunder, dass der Friseur damals häufig fragt, ob man einen Haarschnitt oder einen Ölwechsel haben möchte.
Die Ost-Antwort auf den Rock 'n’ Roll, der "Lipsi", fällt so unbeholfen aus, dass er bald wieder von der Tanzfläche verschwindet.
Im Osten wird begierig aufgegriffen und verarbeitet, was da aus dem Westen kommt. Dennoch bildet sich – politisch so gewollt - eine eigenständige musikalische Entwicklung vor allem in Ostberlin aus. Der Beat ist die alles bestimmende Musikrichtung der 60er Jahre.
1961 stellt sich die Berliner Mauer den Menschen in den Weg, den Rundfunkempfang kann sie nicht unterbrechen. Auch in Ostberlin sind Rias und SFB, AFN und BBC bestens zu empfangen. Die neue Beatmusik, die jetzt über den Äther geschickt wird, löst eine noch nie da gewesene Musikbegeisterung aus, insbesondere für die Beatles.
Etliche Jugendliche greifen zur Gitarre, gründen eigene Bands und wollen es ihren Idolen aus Liverpool gleich tun. Von nun an bewegt sich die Rockmusik in der DDR bis zu ihrem Ende zwischen Aufmüpfigkeit, knallharter Repression und Anpassung. In Ostberlin erscheinen Beatles-Platten, und zugleich erklärt Parteichef Ulbricht beispielhaft auf dem 11. Plenum der SED im Dezember 1965:
"Ich bin der Meinung, Genossen, mit der Monotonie des 'Yeah, Yeah, Yeah' und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen. Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, kopieren müssen?"
Zahlreiche Beatbands werden ab Mitte der 60er Jahre in der DDR verboten, vor allem die lebendige Szene in Ostberlin dünnt sich stark aus. Wer keine Spielerlaubnis hat, darf offiziell nicht auftreten. Die Band Team 4 nennt sich jetzt Thomas Natschinski und seine Gruppe, denn Anglizismen müssen eingedeutscht werden, und: es werden deutsche Texte verlangt! Erstaunlich gut meistert Natschinskis Band den Spagat zwischen staatlicher Gängelung und der Entwicklung eines eigenständigen musikalischen Konzepts. Dass Beatsongs auch auf Deutsch funktionieren, haben DDR-Bands bewiesen.
Im westlichen Teil Berlins versuchen die Lords, die sich als Schülerband im Nobelortsteil Berlin-Grunewald gründen, den Beatles Konkurrenz zu machen. Just zu dieser Zeit entwickelt der Westberliner Senat ein Herz für die musikbegeisterten Jugendlichen, denn durch die Mauer hat sich die Isolation Westberlins stark verschärft.
Die eingezäunte Stadt muss aber attraktiv bleiben, insbesondere für junge Menschen, nur sie können Westberlin eine Perspektive geben. Aus der BRD fließen Milliarden-Subventionen in die Inselstadt, davon profitieren auch die Talente. Die Lords gewinnen das "Goldene Waschbrett", ein Wettbewerb den der Berliner Senat stiftet; daraufhin gibt es noch einmal Geld für Tourneen. Auf diese Weise werden die Lords die beliebteste Beatband der BRD. Die Beatles-Frisur erinnert bei ihnen allerdings an Wischmop-Perücken. Ihr größter Hit "Glory Land" entwickelt sich schnell zur Lieblingsnummer von Kegelbrüdern und heimkehrenden Bundeswehrsoldaten. So war die deutsche Beatband Nr. 1 hauptsächlich etwas für Schützenfeste und Schunkelgesellschaften.
Die 1968er Bewegung mit Rudi Dutschke und Kommune 1 generiert in Westberlin eine völlig eigenständige Musikrichtung. Berlin wird Zentrum des Krautrocks mit internationaler Ausrichtung.
Vom Sog dieser allgemeinen Aufbruchstimmung profitiert auch die Popmusik in Westberlin. Als gemeinschaftliches Ereignis und damit direkt aus den Idealen ihres Berliner Kommunardenlebens entnommen, kreieren Bands wie Ash Ra Tempel und Tangerine Dream psychedelisch-experimentelle Musik, die den Anspruch erhebt "kosmisch" zu sein.
"Wir wollen schöne Musik schaffen, die sich von den Affekten des Hasses, der Aggression und der Verzweiflung löst und dem Zuhörer Freude und Hoffnung gibt; Musik, die den Menschen zurückholt in den Zustand der Unschuld und den Zusammenklang der kosmischen Harmonie."
Zur Stimulation der außerirdischen Klänge fliegt auch der amerikanische LSD-Guru Timothy Leary nach Berlin. Zusammen mit Ash Ra Tempel produziert er eine Langspielplatte und versorgt die Musiker mit "kosmischem Wasser". Entsprechend angetörnt entstehen Stücke wie "Lord Krishna" und "Der Magier".
Doch insbesondere Tangerine Dream verfeinern ihr Synthesizer-Gewaber derart gekonnt, dass sie Anhänger in ganz Europa finden. In Großbritannien spricht man sarkastisch und doch bewundernd von "Krautrock". Immerhin gehört die Band mit ihrem ausgedehnten, schwebenden Klangflächen zu den Pionieren der Synthesizer-Musik. In Deutschland wird Tangerine Dream nur von Exoten wahrgenommen, doch in London begeistern sie ihr Publikum in der ausverkauften Royal Albert Hall.
Die Ostberliner Bands Karat, Puhdys und City etablieren eine völlig eigenständige, originäre Musikrichtung. Die 70er Jahre werden zum Goldenen Zeitalter des DDR-Rock.
Der Machtwechsel von Ulbricht auf Honecker 1971 sorgt zunächst für eine kulturpolitische Entspannung. Bei den X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten im Sommer 1973 präsentiert sich Ostberlin als weltoffene Musikstadt. Neben zahlreichen internationalen Bands spielen 200 einheimische Gruppen in Klubs und auf Open-Air-Bühnen der DDR-Hauptstadt. Das verheißungsvolle Lied "Ketten werden knapper" der Klaus Renft Combo entwickelt sich zur Festivalhymne. Im Aufwind dieses Festivalfiebers etablieren sich nun Bands, die durch ihre künstlerische Qualität ein Massenpublikum im Osten und im Westen finden. Drei der erfolgreichsten Gruppen kommen aus Berlin.
Als die Puhdys - fünf Absolventen der Tanzmusikklasse Berlin Friedrichshain - sich dazu durchringen, ihre Lieder mit deutschen Texten zu schreiben, werden sie auch in den DDR-Medien gespielt. "Wenn ein Mensch lebt" findet Eingang in den Kultfilm "Die Legende von Paul und Paula". Doch die Liebesgeschichte zwischen einer Verkäuferin und einem hohen Staatsbeamten erregte bei den Altvorderen der DDR-Obrigkeit Kritik. Pauls Dienst-Vorschriften lassen sich mit den Glücksvorstellungen der lebensbejahenden Paula kaum vereinbaren. Von der subtilen Systemkritik des Films profitieren auch die Puhdys, die sich so eine riesige Fangemeinde erobern.
Schon der Bandname "City" markiert das Bekenntnis zur Großstadt Berlin. Mit dem Lied "Am Fenster", dieser genialen Mischung aus kühler Melancholie und balkanischen Feuer, landet City vielleicht den größten Hit der DDR-Rockgeschichte. Nun dürfen die so genannten "Rolling Stones des Ostens" auch nach Westberlin reisen und singen vor ausverkauften Plätzen.
Musikalisch findet die Vereinigung Deutschlands schon Ende der 70er Jahre statt. Denn "Über 7 Brücken" von der Gruppe Karat wird in der Version von Peter Maffay auch im Westen ein riesengroßer Hit.
Trotz staatlicher Vorgaben gelingt vielen DDR-Bands die künstlerische Selbstverwirklichung. Experimentierfreude, deutsche Texte in anspruchsvoller Lyrik, melodische Opulenz und klanglicher Pathos sind die Kennzeichen des eigenständigen DDR-Rocks der 70er Jahre.
Westberlin wird Anfang der 70er Jahre zum Magnet für Aussteiger, Studenten, und Leuten mit alternativen Lebenskonzepten. Vor allem der Zonenrandbezirk Kreuzberg bietet den dort Gestrandeten ein billiges Wohn- und Arbeitsumfeld. Von hier geht mit Ton Steine Scherben eine in ganz Deutschland einflussreiche Agit-Rock-Band hervor. Politik und Klassenkampf werden Bestandteil der Rockmusik.
Auch wenn Rio Reiser für die meisten erst mit dem Song "Wenn ich König von Deutschland wär" bekannt wird, startet er seine eigentliche Karriere bereits in den 70er Jahren als Frontsänger der Polit-Rock-Band Ton Steine Scherben. Nur sind deren Songs so aufmüpfig, dass die Radiostationen sie wegen Verdachts auf Verfassungsfeindlichkeit nicht spielen.
"Musik kann zur gemeinsamen Waffe werden, wenn du auf der Seite der Leute stehst, für die du Musik machst. Wenn Du mit Deinen Texten etwas sagst und eine Situation nennst, die zwar alle kennen, die aber jeder vereinzelt in sich hineingefressen hat, dann werden alle hören, dass sie nicht die einzigen sind, die damit noch nicht fertig geworden sind, und Du kannst ihnen eine Möglichkeit zur Veränderung zeigen."
Sagt Rio Reiser und daher können Konzerte auch in Aktionen übergehen. Nach einem Auftritt in der Berliner TU 1971 ruft Reiser dazu auf, das leerstehende Bethanien-Haus in Kreuzberg zu besetzen. Es ist die erste Hausbesetzung in der Geschichte der BRD.
Ton Steine Scherben, "Keine Macht für niemand": "Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen, kommt zusammen Leute, lernt euch kennen, du bist nicht besser als der neben dir, keiner hat das Recht Menschen zu regieren. Im Süden, im Osten, im Norden, im Westen, es sind überall dieselben, die uns erpressen, in jeder Stadt und in jedem Land heißt die Parole von unserem Kampf: Keine Macht für niemand."
Rebellion, Radikalität, aber auch Glaubwürdigkeit zeichnen Ton Steine Scherben aus. Mit solchem Herzblut, mit solch innerer Überzeugung hatte bisher noch keine Band in Deutschland ihre künstlerische und vor allem politische Überzeugung rübergebracht. Ton Steine Scherben geben aber vor allem wichtige Impulse für die Entstehung einer neuen Szene.
In den 80er Jahren dominiert unter den Teenies und Kids die Neue Deutsche Welle. Wesentliche Impulse und Interpreten hierfür kommen aus Berlin und finden mit Nina Hagen den ersten und vielleicht einzigen Star im Westen, der aus dem Osten kommt.
Leitung des DDR Rundfunk: "Wir haben festgelegt, dass alle neu geschriebenen Titel von DDR-Autoren, die in die Richtung der Neuen Deutschen Welle gehen könnten, einer besonderen Prüfung unterzogen werden, damit die großen Verdienste unseres Landes um die Entwicklung einer deutschsprachigen Rockmusik nicht durch Abflachung hinsichtlich von Werken der Neuen Deutschen Welle zunichte gemacht werden."
In Ostberlin wird die Daumenschraube für viele Musiker mal wieder kräftig angezogen. Der DDR-Rundfunk unterzieht die Titel "einer besonderen Prüfung", die Staatsicherheit wirft den DDR-Musikern vor, "ihr gesamtes Auftreten an den Gepflogenheiten des westlichen Show-Geschäfts zu orientieren."
Dabei hat die DDR Anfang der 80er Jahre schon längst einen enormen Exodus an Talenten zu verschmerzen. Veronika Fischer, Holger Biege, Franz Bartzsch und viele mehr gehen in den Westen. Doch die ostdeutschen Stars sind im Westen weitgehend unbekannt und können sich hier nicht behaupten. Der Wechsel bedeutet häufig das Ende ihrer Karriere.
Nicht so bei Nina Hagen, sie hat zum Talent auch Glück. Mit frechem, intelligentem und nicht selten tabubrechendem Punkrock erobert sich die Nina Hagen Band von Westberlin aus eine neue Fangemeinde; treffend formuliert eine Jugendzeitschrift: "Wenn sie nicht wahnsinnig wird, ist sie die Beste."
Nina Hagen Band, "TV Glotzer": "Ich schalt die Glotze an, die Daltons, Waltons, jedermann. Ick glotz von Ost nach West. Ick kann mich gar nicht entscheiden, is alles so schön bunt hier."
Nina Hagens Manager, der Fotograf Jim Rakete, der von einem Kreuzberger Fabrik-Büro aus seine Stars navigiert, hat einen Riecher für den Nachwuchs.
"Wir saßen am Tisch, und dann kam Jim Rakete rein, ich holte meine Demo raus und irgendwie hat die Chemie gleich gestimmt. Das war sehr aufregend: Das Kleinstadtmädchen kommt nach Berlin und macht die große Karriere."
Erinnert sich Nena, die aus dem Sauerland nach Berlin reist, um ein Star zu werden. Zwar darf sie in Raketes Büro erst mal nur staubsaugen, doch dann produziert er mit ihr die erste Singel "Nur geträumt" – ein Blitzerfolg.
Berlin wird zum Zentrum des Techno, einer Musikrichtung, die nun die Fans im wiedervereinigten Berlin zusammenführt. Berlins Love Parade strahlt auf ganz Europa aus.
Die Öffnung der Mauer wird zur Initialzündung für eine sich schnell etablierende Clubkultur. Im maroden Ostberlin finden die Techno-Fans einen einmaligen Leerstand an Fabrikhallen und Gewerberäumen. So entstehen neue Spielorte und Locations. Aus allen Teilen Deutschlands strömen junge und kreative Leute in die Stadt und verwandeln Berlins Mitte und den Prenzlauer Berg in eine Hochburg der Subkultur. Die geringen Mieten und niedrige Lebenskosten der Wiedervereinigten Stadt wirken dabei wie ein Katalysator. Berlins neues musikalisches Markenzeichen ist die Techno- und Clubkultur. Der berühmteste Klub ist der Tresor, der ehemalige Kassenraum des Kaufhauses Wertheim hat den Kalten Krieg überlebt, weil er im Niemandsland der einstigen Mauer steht.
Berlin entwickelt sich aufgrund seiner äußerst lebendigen und kreativen Musikszene zur internationalen Drehscheibe der Popkultur
"Für mich ist Berlin dann doch die interessanteste Stadt der Welt. Es gibt mir unheimlich viel, kulturell ist es interessant, subkulturell ist es spannend, die Lebensqualität ist hoch."
Meint Gudrun Gut, die schon Anfang der 80er Jahren zu den Gründungsmitgliedern der Einstürzenden Neubauten gehört. Sie ist um die halbe Welt gereist, komponiert elektronische Songs und führt zwei eigene Plattenlabels. Wie wichtig gerade die umtriebigen Künstler für Berlin sind, zeigt sich schnell nach der Vereinigung. Westberlin verliert seine Subventionen und in der traditionellen Industrie verschwinden 250.000 Arbeitsplätze. Aber die Musikbranche boomt wie in keiner anderen deutschen Stadt.
Musik und Medien sind die neuen Lebensquellen des krisengeschüttelten Berlin. Keine andere Stadt kann auf ein so riesiges Potenzial an kreativen Köpfen zurückgreifen. Dass Berlin im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ein trendsetzendes kreatives Umfeld aufgebaut hat, zahlt sich nun aus. Musikfirmen wie Universal und MTV ziehen nach Kreuzberg, Deutschlands wichtigste Musikmesse, die Popkomm wechselt von Köln nach Berlin. 1800 Bands vom Blues bis Punk tummeln sich heute im Berliner Musikbiotop. Vor allem von den kleinen Plattenfirmen, die neue Künstler entdecken, sowie den zahleichen Clubs wollen die Großen des Business profitieren. Sie hoffen in Berlin die neusten Trends rechtzeitig zu erkennen. So ist mittlerweile die lebendige Musikszene der Stadt Berlins größte Bereicherung und Zukunftschance.