Feuerlöscher statt Visionäre

Von Claire-Lise Buis |
Der Streit um Griechenland ist beigelegt. Dennoch hinterlassen die letzten europapolitischen Debatten einen bitteren Beigeschmack. Wieder einmal sollte reguliert werden. Wieder einmal sollte entschieden werden – pragmatisch und funktional –, was für den Wohlstand bzw. gegen die Krise zu tun sei. Vergeblich sucht man in diesem Prozess eine politische Vision, die die Bürger der Union begeistern könnte.
Um deren Abneigung, bestenfalls Gleichgültigkeit gegenüber Brüssel zu bekämpfen, reicht es nicht aus, Notfallpläne auszutüfteln. Die Staats- und Regierungschefs der EU hatten beim Frühlingsgipfel eine einzige Ambition: die Wiederholung der Geschichte zu verhindern. Europa fungiert als Feuerlöscher, keineswegs als Visionär. Außerdem strahlt das neue EU-Führungsduo, Catherine Ashton und Herman van Rompuy, nicht gerade Charisma und Autorität aus.

Der Lissabon-Vertrag ist gerade mal seit vier Monaten in Kraft. Und schon blickt man nur noch nüchtern und einfallslos in die politische Zukunft der Union. Begriffe wie "Europa 2020" oder "Agenda 2020" bezeichnen zwar die Projekte der Kommission, die Pläne von Paris und Berlin für mehr Kooperation. Sie wecken jedoch keine Sehnsüchte.

Warum diese Entzauberung? Europa hat offensichtlich die Chance eines "konstitutionellen Moments" – im Sinne von Bruce Ackerman – verpasst. Der amerikanische Politikwissenschaftler und Philosoph hat in der Verfassungsgeschichte der USA bestimmte Momente identifiziert, die Gründung und zugleich Umbruch bedeuteten. In diesen meist seltenen und kurzen Phasen orientierte sich die Politik ganz an der Frage des Gemeinwohls. Das Entscheidende entstand dabei aus dem institutionellen Wandel: eine Neudefinition der politischen Gemeinschaft und ihrer Prioritäten. Genau ein solcher Prozess fehlt heute der Europäischen Union.

"Einspruch!", sagen die Pragmatiker. Das amerikanische Modell sei sowieso eine Nummer zu groß für ein Gebilde ohne Staatsvolk, ohne demos. Das Scheitern des ursprünglichen Verfassungsvertrags im Jahr 2005 habe das zur Genüge gezeigt. Der Lissabon-Vertrag, selbst Produkt einer schweren Geburt, könne keine Wunder bewirken, schon gar nicht in wenigen Monaten. Der Sinn für Realität habe übrigens der EU nicht geschadet, argumentieren andere. Die Integration sei mit wirtschaftlichen Zwischenzielen vorangeschritten, ohne dass revolutionäre Momente und Träumereien nötig gewesen wären.

Diese wohlbekannten Argumente sind der Einzigartigkeit des europäischen Projekts nicht angemessen. Vor genau 60 Jahren legte Robert Schuman mit dem nach ihm benannten Plan den Grundstein der Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Die Taktik der "kleinen Schritte" war sein Duktus, die Versöhnung des Kontinents seine Leitidee.

Heute noch brauchen wir mehr als ein wirtschaftlich orientiertes Ideal oder eine Krisenbewältigungsstrategie, so wichtig diese auch sein mag. Selbst wenn Europa keinen "konstitutionellen Moment" im amerikanischen Stil erleben konnte, muss das demokratische Bestreben nach einer Definition des Gemeinwohls nicht aufgegeben werden. Das Fehlen einer europäischen Identität zu monieren, ist wenig hilfreich. Es gilt vielmehr, einen neuen Verständigungsprozess einzuleiten, der seine Legitimität aus der Vielfalt der Wertvorstellungen schöpft und ein offenes Ergebnis zulässt. Dieser könnte zum Beispiel Sozial- und Bürgerrechte oder eine effektivere Politik an den Konfliktherden dieser Welt zum Gegenstand haben.

Der Deutsche Jürgen Habermas und der Franzose Jacques Derrida hatten es 2003 geahnt: "Eine attraktive, ja ansteckende Vision für ein künftiges Europa fällt nicht vom Himmel", schrieben die beiden Philosophen in einem gemeinsamen Appell. Ambitionierter als die Gründung von Notfallfonds könnte diese Vision jedenfalls sein. Dazu sind weder große Ideologen noch engstirnige Ökonomen gefragt – mutige Politiker aber schon.


Claire-Lise Buis, geboren 1978 in der Nähe von Paris, ist Politikwissenschaftlerin und freie Publizistin. Sie befasste sich in ihrer Dissertation mit der Figur des "inneren Feindes" im demokratischen Kontext und lehrt politische Theorie an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschung und ihre verschiedenen journalistischen Tätigkeiten führten sie von Frankreich über Brüssel und Luxemburg nach Deutschland.
Claire-Lise Buis
Claire-Lise Buis© Michael Fahrig