Übergewichtige Kinder

Auf die Bewegung kommt es an

06:52 Minuten
Zwei Kinder stehen im Stadtbad Märkisches Viertel in Berlin mit einer Schwimmnudel am Beckenrand.
Durch die Pandemie gibt es mehr übergewichtige Kinder. © dpa / picture alliance / Fabian Sommer
Von Anja Schrum · 30.04.2023
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Gesperrte Bolzplätze, geschlossene Schwimmhallen, kein Sport in Vereinen: Die Pandemie führte bei vielen Kindern und Jugendlichen zu Übergewicht. Das Aktionsprogramm "Fidelio Adipositas" will ihnen helfen.
Theresa, Mustafa, Lilly, Felix, Rashid und die anderen dribbeln quer durch die alte Turnhalle in Berlin-Spandau. Von einem Ende zum anderen treiben sie ihre Basketbälle übers Spielfeld, versuchen, den Korb zu treffen.

Etwas abseits auf einer Holzbank sitzt der Sportwissenschaftler Endre Puskas und beobachtet das muntere Treiben.

Wer an dem Programm teilnehmen kann

“Fidelio Adipositas” heißt das Sportprogramm, das die Kinder in Bewegung bringt.
Einzige Bedingung: „Mittleres Übergewicht, schweres Übergewicht und Adipositas. Also die Kinder, die eigentlich im Sport oder in der Bewegung nicht viele Erfahrungen und nicht viel Erfolge gesammelt haben, die eher zu Hause sind."

Ein bundesweit einmaliges Programm

Seit rund 25 Jahren betreut Puskas das Fidelio-Sportangebot für adipöse und übergewichtige Kinder und Jugendliche des Sportgesundheitsparks Berlin. Ein bundesweit wohl einmaliges Programm.
Fast 300 schwer übergewichtige Kinder trainieren regelmäßig in der Zentrale in Berlin-Wilmersdorf. Weil es immer mehr Betroffene gibt, findet man jetzt auch in anderen Bezirken Fidelio-Angebote. Zwei Mal die Woche jeweils anderthalb Stunden Auspowern mit Gleichgesinnten - und das kostenlos.
Programmleiter Endre Puskas schaut zu und nickt zufrieden:

Wir müssen sie belasten. Sie müssen sich positiv anpassen. Und wenn wir sie unterfordern, passiert nichts. Wir dürfen sie aber auch nicht überfordern. Das ist genau der Punkt, dass wir so immer in dieser Forderung bleiben. Und dann passiert auch genau das, dass Gelenke stabilisiert werden durch Muskulatur, dass der Rücken gehalten wird durch Muskulatur. Die Koordination verbessert sich. Muskelketten arbeiten besser.

Programmleiter Endre Puskas

“Zapping”-Training nennt Endre Puskas das Sportangebot, das er im Laufe der Jahre für übergewichtige Kinder entwickelt hat. “Technik interessiert mich nicht”, sagt der Sportwissenschaftler. Wenn jemand falsch dribbelt – egal.

Warum kleine Erfolge so wichtig sind

Auf die Bewegung komme es an:

„Alles in Spielform einbinden, alles mit kleinen Erfolgen, so dass die auch immer in dieser Motivation bleiben. Und mache etwas nicht zu lange, keine 20 Minuten ein Spiel. Mache sechs Minuten oder mach vier Minuten, aber wiederhole das Spiel. Und wenn du wiederholst, ändere eine Kleinigkeit, das heißt, gib denen immer neue Erfolge.“
Ballspiele ohne komplizierte Regeln. Ständig wechselnde Spielformen. Plus Aktivitätsregeln wie etwa die sogenannte Mittellinien-Regel:

„Alle Fünf müssen über die Mittellinie, egal welche Sportart, sonst zählt das Tor nicht. Da kann nicht einer hinten als Torwart stehen. Auch der muss über die Mittellinie! Und jetzt umgekehrt: Alle Abwehrspieler müssen zurück und helfen. Wenn einer seine Mannschaft im Stich lässt, verdopple ich das Tor, was fällt. Was passiert? Alle zehn bewegen sich hin und her.“

Trinkpause in der Halle. Es gibt nur Wasser, keine zuckerhaltigen Getränke - das ist eine weitere Regel.

Sport ohne Druck

Die 9- bis 15-Jährigen sind verschwitzt, atmen schwer – und sind zufrieden:

„Mir gefällt das. Vor allem auf jeden Fall die Spiele, die mit Ball irgendwas mit zu tun haben. Weil mein Hobby ist Fußball und irgendetwas mit Ball spielen. Also hier macht es mir auch Spaß.“

„Also mir gefällt es, dass wir hier Spiele spielen können, ohne dafür irgendwie benotet zu werden. Wie im Sportunterricht. Und wenn wir was schaffen, nicht schaffen, dass man hier keinen Ärger bekommt oder so.“

Sport ohne Druck. Spiele, bei denen man nicht fürchten muss, zuletzt gewählt zu werden.

Oft Ausgrenzung von Übergewichtigen

Die Lebenswelt übergewichtiger Kinder ist häufig geprägt von Anfeindung und Ausgrenzung. Hier in der Halle gibt es das nicht:

„Weil hier kennt man nicht so viele Leute. Und in der Schule kennt man mehr - und das ist dann peinlich, wenn man zum Beispiel runterfällt oder sowas. Hier ist das nicht peinlich.“

Schnelle Gewichtsabnahme als Illusion

Trainer Marcus hat die Trinkpause genutzt, um einen Parcours aufzubauen. Jetzt klettern die Fidelio-Kids über Sprungkästen, trippeln durch Ringe, rollen über dicke blaue Turnmatten. Sie hüpfen, watscheln, balancieren und haben sichtlich Spaß dabei.

Doch durch Sport schnell Gewicht verlieren, das sei eine Illusion, weiß Sportwissenschaftler Puskas:

Sie werden nicht Übergewicht in Wochen und Monaten loswerden. Und alleine mit Ernährungsprinzipien werden Sie bei Kindern nichts erreichen. Das geht im rechten Ohr rein und im linken Ohr wieder raus. Die Kinder können Verantwortung übernehmen im kleinen Bereich. Man muss sie aber auch anleiten. Und dazu gehört etwas, was viele vergessen: Selbstwertgefühl erzeugen und Selbstbewusstsein.

Endre Puskas, Programmleiter und Sportwissenschaftler

Verantwortung im kleinen Bereich übernehmen

Genau das erreiche man mit Sport:

„Das Training besteht aus 100 kleinen Erfolgen. Wenn man unsere Arbeit sieht, dann ist am Anfang immer für mich: verändere Verhalten. Wenn ich das hinkriege nach einigen Wochen, Monaten, dann verbessere die Sportlichkeit. Wenn ich das hinkriege. Nach einigen Monaten beginne ich, am Gewicht zu arbeiten.“

Die Kids werden durch das Programm aktiver

Alle paar Monate werden die Kids gewogen, wird Körperfettanteil und Muskelmasse bestimmt, außerdem die Fitness getestet. Bei einer Umfrage gaben 70 bis 80 Prozent der Kinder an, sich mit dem Fidelio-Training wohlzufühlen - und sich auch außerhalb des Trainings mehr zu bewegen:

„Tatsächlich sind sie aktiver geworden von sich aus. Wo sie früher dachten: Ich kann nichts. Jetzt sagen sie: Ich kann nicht alles, aber ich kann schon eine Menge. Und das ist der Transfer im Alltag und im Freizeitbereich. Also, wenn die Kinder sich bewegen, bewegen sich die Eltern im Freien am Wochenende mit. Und wenn die Eltern sich bewegen, dann sind die Kinder dabei.“

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