Die Avantgarde prägt einen neuen Sound
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Elektronische Klänge behutsam verwoben mit Aufnahmen aus der Natur oder dem städtischen Leben – sogenannte Field Recordings: Der Musikjournalist Jens Balzer ist begeistert vom neuen Sound auf dem Album „Logue“ des kenianischen Musikers Joseph Kamaru.
Die Fachpresse jubelt zurecht, urteilt der Musikjournalist Jens Balzer über Joseph Kamarus neues Album "Logue". Das sei hervorragend. Die neun minimalistisch, ruhigen Songs entfalten sich sehr langsam und geradezu schwebend.
Vogelgezwitscher und glucksende Bäche
Den Sound beschreibt Balzer als glitzernde Keyboard-Arpeggien, verwehte Mandolinen-Akkorde und manchmal setzen auch Rhythmen ein, die aber eher dazu da seien, die Klangflächen zu akzentuieren. Ein richtiger Beat entstehe daraus nicht.
Das alles wird durchzogen von Field Recordings – zum Beispiel Vogelgezwitscher oder glucksenden Bäche. Manchmal höre man auch so etwas wie Straßenszenen, lachende, schwatzende Menschen.
"Man hat wirklich sofort eine ganze Welt aus Musik, Geräuschen und vielen Sounds im Kopf, bei denen man nicht so genau sagen kann, ob das jetzt schon Musik oder noch Geräusch ist", so Balzer.
In der Berliner Isolation entstanden
Die Aufnahmen habe Kamaru zwischen 2017 und 2019 in seiner Heimat Nairobi gemacht, aber auch auf Reisen durch Kenia. Seit letztem Oktober ist er in Berlin, wo er an der Universität der Künste an einem Graduiertenprogramm für Sound Studies teilnimmt.
"So ist das ganze Album mit all diesen afrikanischen Field Recordings in der Isolation eines Zimmers in Berlin-Moabit entstanden", erzählt Balzer.
Sounds aus Nigeria
Beim Hören sei ihm ein weiteres Album in den Sinn gekommen, das ebenfalls elektronische Musik und Field Recordings verbindet. Emeka Ogboh sei ein aus Nigeria stammender Künstler, der zwischen Lagos und Berlin pendelt.
Auf "Beyond the Yellow Haze" arbeitet Ogboh mit den verschiedensten Medien, darunter auch Klanginstallationen. Diese habe er auch im Berliner Berghain bei der Ausstellung "Studio Berlin" gezeigt, erzählt Balzer. Da hatte Ogboh auf dem großen, jetzt natürlich verwaisten Dancefloor eine Installation mit Sounds aus dem Nachtleben der nigerianischen Hauptstadt errichtet.
"Man hört Straßengeräusche, Hupkonzerte oder sich chorartig verdichtendes Passantengemurmel", berichtet Balzer. Das wiederum erinnere ihn an die Berliner Dub-Techno-Tradition.
Beiden Künstlern gehe es um Themen wie Kolonialismus oder Ökologie – und auch um beides zusammen.
Geräusche von Wasserleitungen
Es gebe außerdem eine ganze Reihe von Field Recordings-Projekten und Klanginstallationen, die der chilenische Produzent Nicolas Jaar in den letzten Jahren initiiert hat, erzählt Balzer.
Jaar sei als Techno-Produzent und DJ bekannt. Er beschäftige sich mit Sounds, in denen, wie er sagt, die "Intersektionalität von Ökologie und Kolonialismus" hörbar wird.
Er habe zum Beispiel in Bethlehem im Westjordanland mit Field Recordings von den dortigen Wasserleitungen gearbeitet. Balzer erklärt: "Das ist hochpolitisch, wenn man weiß, dass die Wasserversorgung der Region zu den zentralen Konflikten zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde und Israel gehört."
Material, das nicht aus dem Computer kommt
Außerdem habe Jarr zuletzt ein Projekt in der Atacama-Wüste in Chile betrieben, deren Ökosystem bedroht ist.
"All diese Musiker arbeiten mit Klängen, die sie nicht selber erzeugt haben, mit ästhetischem Material, das nicht aus dem Computer kommt", so Balzer.
Die elektronische Musik an sich habe einen Zustand erreicht, in dem sich auch mit billigen, universell verfügbaren Produktionsmitteln jeder beliebige Sound erzeugen lasse.
Das Reale kehrt zurück
Das habe zwar etwas Befreiendes, so Balzer, denn jede und jeder könne jetzt alles machen, aber natürlich drohe da auch die Gefahr der Beliebigkeit. Mit diesen Field Recordings werde die elektronische Musik gewissermaßen wieder geerdet. Oder anders herum: Das Reale kehre zurück in die künstlerische Simulation.
"Im Moment gehören die Künstlerinnen und Künstler, die mit Field Recordings arbeiten, noch ganz klar zur Avantgarde. Aber die künstlerischen Verfahren, mit denen sie hier experimentieren, könnten der elektronischen Musik im Ganzen neue Möglichkeiten eröffnen", meint Balzer.
(nis)