Fiktive Prozesse sensibilisieren Jugendliche für eigenes Fehlverhalten

Moderation: Matthias Hanselmann |
Der Präsident des Amtsgerichts Bremerhaven, Uwe Lissau, hält so genannte "Mood Courts" nach US-Vorbild für ein gutes Mittel zur Prävention von Jugendkriminalität. "Mood Courts" sind gespielte Prozesse mit echten Richtern und Verteidigern, in denen Jugendliche dokumentierte Verhandlungen nachstellen. Die mitwirkenden Schüler würden sich so ihres eigenen Fehlverhaltens und der Folgen für die Opfer bewusst. Die Wirkung sei sehr nachhaltig.
Matthias Hanselmann: In einem Studio vor Ort ist jetzt für uns der Präsident dieses Gerichtes. Guten Tag, Uwe Lissau!

Uwe Lissau: Guten Tag, Herr Hanselmann!

Hanselmann: Woher kam denn die Idee für solche Veranstaltungen?

Lissau: Ja, ein Amtsgericht ist ja inzwischen zu einer Art Seismograph für gesellschaftliche Entwicklungen geworden, sei es auf wirtschaftlichem Gebiet, aber eben auch im Hinblick auf die Jugendkriminalität. Meiner Meinung nach muss sich das über die Rechtsprechung hinaus auch in unseren Aktivitäten widerspiegeln, und wir haben Kooperationen geschlossen, unter anderem mit Schulen. Und da hatten wir die Idee, dass wir in einer solchen fiktiven Gerichtsverhandlung mit Schülern, aber dann mit realen Richtern und Verteidigern uns mit der steigenden Gewalt und Jugendkriminalität in Bremerhaven auseinandersetzen und als, wie ich finde, sehr probates Mittel kann dort ein sogenannter Mood Court dienen.

Hanselmann: Was wir gehört haben, klingt ganz danach. Wie nennen Sie es, einen sogenannten ...

Lissau: Der heißt "Mood Court". Der Begriff kommt aus dem Englischen, wurde auch schon in der US-amerikanischen Juristenausbildung angewandt. Eine simulierte Gerichtsverhandlung, die aber so real ist, dass sich eben die zuhörenden Schüler und die mitwirkenden Schüler mit den Folgen ihres eigenen Fehlverhaltens, das heißt der Angeklagten, die sie spielen, aber auch eben mit der Sichtweise der jeweiligen Opfer beschäftigen können. Und die Wirkung ist, so wie mir auch die Schulleiter berichten, sehr nachhaltig.

Hanselmann: Mood Court. Ich wollte Sie gerade fragen, wie die Erfahrungen sind. Sie sagen, die Wirkungen sind sehr nachhaltig. Welche Fragen werden von den Schülern meistens gestellt?

Lissau: Von den Schülern werden Fragen im Hinblick auf die Delikte gestellt, beispielsweise dieses sogenannte Abziehen. Jacken, CD-Player oder dergleichen wegzunehmen, ist ja Raub. Und ihnen wird dadurch bewusst, dass eine solche Straftat enorme Folgen hat, was sie vorher eben nicht so sehr im Blickfeld hatten.

Hanselmann: Werden die Fälle dann im Unterricht von den Lehrern weiter besprochen?

Lissau: Ja, sie werden weiter besprochen, und auch die Fragen, die dort kommen, zeigen, dass wir den gewünschten Erfolg haben. Und die Nachfrage nach unseren Jugendgerichtstagen, die wir durchführen, die ist sehr, sehr groß. Und wir haben auch jetzt schon erlebt, dass Schüler in Gerichtsverhandlungen kamen, um sich andere Verfahren, also reale Verfahren nochmals anzusehen.

Hanselmann: Und Sie hoffen wahrscheinlich, dass sich das eines Tages in die Kriminalitätsstatistik von Bremerhaven, dass es da mit einfließt oder sich positiv bemerkbar macht, oder?

Lissau: Das hoffen wir sehr. Wir hoffen sozusagen präventiv hier tätig sein zu können, eben im Verbund mit der Staatsanwaltschaft, mit den Schulen, aber auch mit der Ortspolizeibehörde hier in Bremerhaven.

Hanselmann: Sie haben die Amtsgerichte ja nicht nur dafür geöffnet, sondern auch für andere Veranstaltungen, für andere Ideen. Welche zum Beispiel?

Lissau: Wir führen Lesungen durch, Ausstellungen, Filmvorführungen. Wir haben Jugendprojekte. Als Lesung hatten wir jetzt kürzlich zur Erinnerung an die Autorinnen und Autoren, deren Bücher vor 75 Jahren verbrannt wurden, eine Lesung im Amtsgericht Bremerhaven. Dann haben wir eine Fachtagung, die sich auch - Bremerhaven ist ja ein großer Auswandererhafen gewesen, wie Sie wissen - mit Recht und Migration beschäftigt. Dort war Frau Brigitte Zypries, die Bundesjustizministerin vor Ort. Das ist eine Kooperation mit dem Deutschen Auswandererhaus.

Dann führen wir, um auch das Geschichtsbewusstsein wachzuhalten, Filme vor, die sich mit der NS-Justiz beschäftigen, beispielsweise mit dem Film "Das Heimweh des Valerjan Wrobel". Der thematisiert das Schicksal eines 16 Jahre alten Zwangsarbeiters aus Polen, der 1941 hier in Bremen hingerichtet wurde. Und den führen wir vor vor Schülern gleichen Alters. Und auch da ist die erschütternde Wirkung doch recht groß.

Hanselmann: Wie ich gelesen habe, spielt der Saal 100 Ihres Gerichts dabei eine wichtige Rolle.

Lissau: Ja, der Saal 100 - wir haben das Gericht restauriert, und das Gerichtsgebäude ist etwa 100 Jahre alt, die Gerichtsstätte ist älter. In diesem Saal 100 haben sogenannte Sondergerichtsverfahren stattgefunden. Das waren also Verfahren in den Jahren 1941 bis '45, und dort wurden Todesurteile ausgesprochen. Und mit dieser Frage beschäftigen wir uns dort auch, eben dass die Schüler die Erkenntnis mit nach Hause nehmen, dass Gericht in der Vergangenheit, wie man so schön sagt, nicht immer gerecht war.

Hanselmann: Wie sind eigentlich die Reaktionen in Ihrem Juristenkollegenkreis? Hat Ihre Idee schon Nachahmer gefunden oder vielleicht auch scharfe Kritiker, sagt man, der Lissau da oben in Bremerhaven, der spinnt wohl ein bisschen?

Lissau: Nein. Das habe ich bisher nicht gehört. Es sind ja Veranstaltungen, die auch einen Bezug zum Gericht haben, Sie haben es eben angesprochen. Wir setzen uns damit auseinander, was in der Vergangenheit passiert ist, aber wir setzen uns auch damit auseinander, was gegenwärtig hier in Bremerhaven passiert. Und dass es einen hohen Anteil an Jugendkriminalität gibt, kann nicht wegdiskutiert werden. Und ich denke, da sollte jede Maßnahme erwünscht sein, die dem entgegenwirken kann.

Hanselmann: Mir ist ja sofort "Der zerbrochene Krug" von Heinrich von Kleist eingefallen. Das Stück spielt im Gerichtssaal von Richter Adam. Wurde es bei Ihnen schon aufgeführt?

Lissau: Nein.

Hanselmann: Dann nehmen Sie es als Tipp von mir. Vielen Dank für dieses Gespräch.

Lissau: Wenn wir jemanden finden, der den Dorfrichter Adam spielt, ja.

Hanselmann: Okay, alles klar, viel Glück dabei.

Lissau: Danke, Herr Hanselmann.

Hanselmann: Das Bremerhavener Amtsgericht öffnet sich für Kultur und Gesellschaft. Das war ein Gespräch mit Uwe Lissau, der im Studio Bremerhaven für uns gesessen hat. Danke.