Beklemmende Reise in die Heimat der Eltern
Filipp Piatov, der als Kind mit seiner Familie aus St. Petersburg nach Deutschland ausgewandert war, schreibt in "Russland meschugge" über eine Reise nach Sibirien. Er begegnet einem rauen Russland - und entdeckt, dass seine russische Heimat ihm fremder ist als gedacht.
Deutsche Freundlichkeit, die auf betrunkene russische Rauheit trifft, könne schnell zum Verhängnis werden. Einem Nicht-Russen würde Filipp Piatov nicht empfehlen, allein mit seiner Freundin bis nach Sibirien zu reisen.
Selbst er, der unterwegs als verwöhnter Landsmann aus dem schönen Deutschland auf Besuch in der armen Heimat akzeptiert wurde, geriet immer wieder in brenzlige Situationen, denen er sich nur mit Geschick, Sprachkenntnis und Landeskunde entziehen konnte.
Per Couchsurfing zum Baikalsee
1991 in Leningrad geboren, ein Jahr später mit seiner jüdischen Familie nach Deutschland ausgewandert, wuchs er im Schwarzwald auf, studierte Wirtschaftswissenschaften in Frankfurt am Main und lebt heute als Publizist in Berlin.
Von dort machte er sich auf zu einer Reise über Kaliningrad, St. Peterburg und Moskau, weiter mit der Transsibirischen Eisenbahn über Jekaterinburg, Nowosibirsk und Irkutsk bis zum Baikalsee.
Er besuchte nicht nur Verwandte, folgte nicht nur den Spuren seiner Familie, sondern kam ins Gespräch mit zufällig gefundenen Reisebekannten sowie weltoffenen und gebildeten Gastgebern, die ihn und Sara über Nacht aufnahmen, denn beide waren per Anhalter, per Bahn und per Couchsurfing auf Tour.
Begegnungen mit dem schönen, kaputten Russland
Ihnen begegnete ein landschaftlich schönes, gastfreundliches, aber auch raues und feindseliges, hässliches und kaputtes Russland, jenseits des Ural verwahrlost, in den Großstädten St. Petersburg und Moskau mit sehr westlichem Lebensstil.
Seine persönlichen Eindrücke ließen ihn innerlich abrücken von den Geschichten seiner Eltern und Großeltern, die ihn prägten und die er selbst überprüfen wollte.
So kehrte er zurück mit der Erkenntnis, dass er zuvor keine Ahnung von der Lebenswirklichkeit der Russen gehabt und dass die russische Heimat weniger mit seiner Identität zu tun habe, als er selbst glaubte; letztlich die Erzählungen nicht dem Kind galten, sondern zeigten, wie schwer es den Erwachsenen gefallen war zu verarbeiten, was sie im Alltag der Sowjetunion erlebten hatten.
Mehr noch, sie hätten verkannt, dass sie ihre gesellschaftliche Stellung nicht nach Deutschland mitnehmen konnten, sondern selbst als gestandene Bildungsbürger noch einmal ganz von unten anfangen mussten.
Putin als Inkarnation des Russen
Mit Sorge verfolgten die Eltern von Deutschland aus am Fernsehen, wie mit Wladimir Putin ein Geheimdienstmann in den Kreml einzog und sie an alte dunkle Zeiten erinnerte.
Doch auch wenn Filipp Piatov keine Sympathie für ihn hegt, hält er es für falsch, den Präsidenten als banal, dumm und roh darzustellen. Denn nicht ohne Grund sei er ins Amt gekommen und habe sich dort gehalten, nämlich weil er besser als andere wüsste, wie Russland funktioniere. Er sei nicht die Inkarnation des Bösen, sondern des Russen.
So humorvoll Filipp Piatov über "Russland meschugge" und seine Außenseiter-Familie schreibt, so anrührend und ernst sind die deutsch-russisch-jüdischen Szenen, die er schildert.