Der Raum als Hauptdarsteller
Der Science-Fiction-Film "Gravity" und der Western "Gold" haben denselben Hauptdarsteller: Den entgrenzten Raum. Und von Grenzerfahrungen erzählen "Michael Kohlhaas" und "Der Geschmack von Rost und Knochen".
Die ersten vielleicht 20 Minuten von "Gravity" sind wie ein Schock. Nein, keine Säure versprühenden Aliens, keine Weltraumschlachten. Ganz Anderes: Stille in 3-D im Weltraum, Astronauten im Orbit bei Wartungsarbeiten. Aber dieser Raum – Grenzenlosigkeit, kein Halt für uns, alles rutscht uns weg. Unfassbar, auch für abgebrühte Kinoprofis. Hier wird Kino zur Körpererfahrung. Urangst, den Boden zu verlieren. Unter den Füßen? Ganz falsch. Sondern unten, oben, rechts, links. Vier Jahre hat "Gravity"-Regisseur Alfonso Cuarón an der Technik gearbeitet, um solche 3-D-Bilder zu schaffen. Dann langsam, wie gesagt nach ungefähr 20 Minuten, können wir uns adaptieren an diese Bilder und das Gefühl, das sie auslösten. Vielleicht lenkt uns die Action ab vom puren Raumgefühl, in das uns "Gravity" hineingeworfen hat.
"Explorer, hier ist Houston."
"Houston, ich höre."
"Mission abbrechen. Ich wiederhole ..."
Altgedienter Astronaut (George Clooney) und Greenhorn (Sandra Bullock) außerhalb des Shuttles. Plötzlich zerstören Trümmerteile ihr Shuttle. Kein sicherer Hafen mehr, kein zurück, lost in space. Sie treiben durchs All. Nur noch Resttreibstoff in ihren Raumfahrertanks, die die einzige Chance zur Navigation bieten.
"Houston, ich bin vom Shuttle getrennt, und ich drifte. Hören Sie mich?"
Ein Zwei-Personenstück wird bald zum Einpersonenstück: eine Frau im All, …
"Houston, hören Sie mich?"
… die versucht, auf die Erde zurück zu kommen.
Kino, das ist Bewegung im Raum, hier im grenzenlosen All. Um das zu erzählen, braucht man kein 3-D, das haben "Odyssee im Weltraum" und die anderen Klassiker des Science-Fiction-Genres bewiesen. Aber Alfonso Cuarón zeigt in "Gravity", einem der Meisterwerke im Kino in diesem Jahr, dass 3-D-Kino berauschend sein kann, wenn der Raum, wie in "Avatar" oder jetzt in "Gravity", zum Hauptdarsteller wird.
Das war nie anders in dem anderen Raum-, dem Parallel-Genre zum Science-Fiction-Film, dem Western. Dort wurde die Landschaft oft zum Hauptdarsteller: Wüsten, Gebirge, Wälder; immer die Weite, Entgrenzung, wo der der Mensch wie eine Ameise erschien, immer bereit verloren zu gehen. Auch Mads Mikkelsen geht am Ende in "Michael Kohlhaas" verloren.
"Ich suche meine Pferde, mein Herr."
Ein Mann, dem ein Adliger zwei Rappen stiehlt, setzt sich blutig gegen staatliche Willkür zur Wehr.
"Ihr habt mich zum Besten gehalten."
Arnaud des Pallières Version des "Michael Kohlhaas" spielt in den französischen Cévennen. In der Weite dieser kargen, Wind durchtosten Landschaft bekommt Arnaud des Pallières' Film viele Elemente des Western. Abgründe, Versuchungen sehen wir und einen Mann der Rache.
"Kohlhaas, was dich hier auf Erden erwartet, ist das Schafott."
Ein Mann, der so viele getötet hat, aber dann in Todesangst auf den Richtblock steigt und minutenlang in dieser Hölle der Unsicherheit und Ungewissheit verharrt. Das ist die großartigste, gleichzeitig aber auch schockierendste Szene von Arnaud des Pallières "Michael Kohlhaas"-Film, die unendlich gedehnt ist, aber nicht zu lang, sondern unerträglich intensiv erscheint. Wie ist es an dieser Grenze zu stehen, wo der Schmerz, dann der Tod, dann die Erfahrung der totalen Entgrenzung kommt? In Arnaud des Pallières "Michael Kohlhaas" geht es um Auflösung. Verloren gehen.
"Ich gehe davon aus, dass wir in sechs Wochen am Ziel, in Dawson, sein werden."
Oder – Thomas Arslans Film-Western "Gold" – verloren gehen in der Wildnis.
"Wäre falsch, jetzt aufzugeben."
"Ich will weiter."
"Ich will auch weiter."
"Ich ebenfalls."
"Gold" erzählt von sieben deutschen Auswanderern, die im Sommer 1898 zu kanadischen Goldfeldern wollen. Dabei allein, ohne Mann: Emily Meyer, gespielt von Nina Hoss.
"Unser Weg wird uns ungefähr 1500 Kilometer Richtung Norden führen."
Es werden nicht viele ankommen in Dawson am Klondike. Wie im klassischen Western ist auch in "Gold" die Erfahrung des Raums bedrohlich wie faszinierend.
"Kein Wunder, dass nur so wenige auf dieser verfluchten Route unterwegs sind."
Emily kann in der Natur wie in der männlich beherrschten Welt ohne emotionalen Panzer nicht überleben, so wie auch die Frauen im Parallelfilm, Kelly Richards Frauenwestern "Meek's Cutoff" – auf DVD erhältlich – ohne solch eine Gefühlssperre nicht überleben konnten. Erst als das Ziel fast in Sicht ist, darf Nina Hoss in "Gold" heraus aus dem Panzer, und dann erlaubt Thomas Arslan ihr, hinaus zu galoppieren in die Freiheit. Wohin willst du, Lady? Fragt der alte Mann.
"Where are you heading, lady?"
"Dawson!"
Nach Dawson, ruft sie, die Überlebende. Natürlich ist dieser wunderschöne deutsche Western "Gold" auch ein Emanzipationsfilm. Ein Film über einen Aufbruch, der einen neuen Raum öffnet.
Aufbruch, Ablösung von Illusionen und Traumata. Stéphanie, der Wal-Trainerin in Jacques Audiards großartigem Film "Der Geschmack von Rost und Knochen", werden bei einem Unfall beide Unterschenkel abgebissen. Marion Cottillard ohne Beine! Natürlich hat die Schauspielerin Marion Cottillard für den Film "Der Geschmack von Rost und Knochen" nicht ihre Beine geopfert. Nur ist das Problem, dass alles Wissen über digitale Tricks hier nichts hilft, genau so wenig – der Jahreskreis schließt sich –, wie es uns in "Gravity", als uns der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, nichts half zu sagen, ach, sind doch nur Kinobilder. In "Der Geschmack von Rost und Knochen" ist die wunderschöne Frau, der die Beine amputiert wurden, wahr. Wahr in unserer Wahrnehmung, unserem Gefühl. Jacques Audiard erzählt von beschädigten Helden mit Prothesen. Sex gibt es trotzdem. Pragmatisch, praktisch – auch gut?
"Es ist jetzt alles für mich so neu."
"Ist jetzt gut oder nicht?"
Wir können das gerne wiederholen, meint Ali, der Bär von einem Mann, der Stéphanie ins Leben zurückholt.
"Wenn ich o. P. bin, geht es los."
"Wenn du o. P. bist?"
"O. P., ohne Plan."
Der sexuelle Akt zwischen der Frau ohne Beine und dem Muskelpaket von Mann ist verstörend, sinnlich, abgründig, schockierend, grenzüberschreitend.Der Satz, Ist doch alles nur Kino, er half im Kinojahr 2013 ein paar Mal nicht. Und das waren die Momente im dunklen Saal, um die es ging.