Wenn Kinderträume der Armut trotzen
Aus der Perspektive der sechsjährigen Moonee erzählt Sean Bakers Film "Florida Project" vom Leben in Armut, in billigen Motels ganz in der Nähe des verheißungsvollen Disneylands. Die Dreharbeiten mit Kindern waren für Baker eine Herausforderung.
Patrick Wellinski: Ich würde gerne mit dem Filmtitel beginnen. "The Florida Project" geht zurück auf eine Walt-Disney-Version von 1966. Da geht es um eine utopische Gemeinschaft ohne Armut und Slums. Sehen Sie ihren Film als eine Art Reality-Check dieser Vision?
Sean Baker: Ja, natürlich. Deswegen haben wir den Film so genannt. Walt Disney wollte zeigen, auf welch schöne Zukunft wir zusteuern. Walt Disney und der Vergnügungspark Epcot, die zu einer boomenden Wirtschaft in der Region führen. Wir wollten diese Verbindung nicht zu deutlich herstellen im Film. Es ist an den Zuschauern, es hinterher zu googeln.
Patrick Wellinski: Was war der Auslöser für den Film: der Ort, Walt Disney oder die Geschichte?
Sean Baker: Mein Drehbuchkollege Chris Bergoch hat mich auf diese ganze Welt aufmerksam gemacht. Er hat mir Zeitungsartikel über die Situation in Kissimmee geschickt, was außerhalb von Orlando in Florida liegt. Und alle Artikel haben diesen Gegensatz hergestellt, auf den wir uns auch im Film konzentrieren: dass Familien mit Kindern in billigen Motels wohnen und dass nebenan Disneyland liegt, der wohl magischste Ort der Welt für Kinder. Bei der Recherche stellte ich fest, dass es diese versteckte Obdachlosigkeit im ganzen Land gibt. Ich hatte davon nichts gewusst und war schockiert, weil ich mich eigentlich als gut informiert betrachte. Ich habe außerdem in New York und Los Angeles gelebt und dachte, ich wüsste, was Obdachlosigkeit ist. Aber es gibt eben auch Tausende Menschen, die sich keine Wohnung leisten können und dann nach anderen Wegen suchen, ein Dach über dem Kopf zu haben – wie in diesen Billigmotels.
Ich wollte die Geschichte auf jeden Fall in Florida ansiedeln, in dieser Touristenhauptstadt, die so viele Menschen auf der Welt schon besucht haben. Ich dachte, das würde die Zuschauer berühren, auch weil klar wird: wenn es an einem so bekannten und beliebten Ort passiert, dann kann es überall passieren.
"Oberflächlich sind meine Filme Unterhaltung und voller Eskapismus"
Patrick Wellinski: Der Kern des Films ist also ein politischer, Armut und die Wohnungskrise. Das ist interessant, denn wenn man den Film sieht, ist der Ton sehr leicht, die Geschichte wirkt wie ein Abenteuer. Man folgt als Zuschauer den Kindern beim Kindsein.
Sean Baker: Ja, alle meine Filme sind so. Oberflächlich betrachtet sind sie Unterhaltung und voller Eskapismus. Ich weiß, was ich tun muss, um auch ein Mainstream-Publikum zu erreichen. Bei Zuschauern in den USA ist es so: Sie haben den ganzen Tag gearbeitet, um Geld zu verdienen, haben sich mit lauter Problemen rumgeschlagen, das politische Klima ist erhitzt, es wird über sexualisierte Gewalt diskutiert – das letzte, was sie wollen, ist, das schwer verdiente Geld bei einem Date in einem Film auszugeben, der sie dann mit Statistik und Politik überfällt. Als Regisseur muss ich die Themen zugänglich machen. Das versuche ich mit dem Film. Zuallererst, so um die 80 Prozent, sollen die Zuschauer lachen und Spaß mit den Kindern haben und sich an ihre Kindheit in den Sommerferien erinnern. Am Ende des Films wissen sie hoffentlich trotzdem etwas mehr über ein Problem, das ihnen vorher unbekannt war und dann ihre eigene Umgebung anders sehen lässt. Aber wir müssen sehr vorsichtig und bedacht dabei vorgehen, wie wir Politik in einem Unterhaltungsmedium wie dem Kino heutzutage präsentieren.
Patrick Wellinski: Ich glaube, Alfred Hitchcock war es, der mal gesagt hat: Nichts ist furchteinflößender und schwieriger, als mit Tieren und Kindern zu arbeiten. Nun machen Sie einen Film, der komplett aus der Kinderperspektive erzählt ist, und zwar nicht nur eines Kindes, sondern gleich mehrerer. Wie furchteinflößend war es, ein solches Projekt auf schmalen Kinderschultern ruhen zu lassen?
Sean Baker: Der Druck war riesig. So groß, dass uns eineinhalb Monate vor Drehbeginn noch immer die Protagonistin fehlte. Ich habe mit meinen Produzenten gesprochen und ihnen gesagt, dass wir den Dreh eventuell verschieben müssten. Das hätte große Probleme verursacht, weil wir im Sommer drehen mussten. Was wäre uns also übrig geblieben? Alles um ein ganzes Jahr zu verschieben? Es wurde sehr stressig. Aber mir war klar, wie wichtig ein gutes Casting war. Die Kinder mussten charismatisch und glaubwürdig sein. Ich wollte, dass die Kinder echt wirken, einschließlich des Akzents aus Orlando. Und ich wollte, dass es ihnen gut geht, dass sie abends in ihrem eigenen Bett schlafen können und den Sommer nicht alleine in einem unbekannten Ort verbringen müssen.
Patrick Wellinski: Wie war die Atmosphäre während des Drehs? War es ein bisschen wie auf dem Abenteuerspielplatz oder war den Kindern klar, dass sie einen wichtigen Film drehen?
Sean Baker: Ich glaube, sie haben verstanden, dass es uns um etwas Wichtiges ging. Der kleine Christopher Rivera sagte immer, er gehe heute zur Arbeit mit dem grünen Kobold und meinte damit Willem Dafoe, der der grüne Kobold in Spiderman war. Und trotzdem war es mir wichtig, dass sie Spaß hatten, weil ich auf keinen Fall riskieren wollte, dass ein Kind irgendwann dicht macht und aufhört. So war es ein bisschen wie im Ferienlager, mit einer Schauspiellehrerin, die sich jeden Tag Spiele und Übungen ausdachte und dabei die Kinder so sehr mit ihren Figuren vertraut machte, dass ich irgendwann sogar mit ihnen improvisieren konnte, einfach, weil sie ihre Figuren so gut kannten. Und trotzdem sollte es sich für sie nie wie Arbeit anfühlen, sondern immer wie Spiel.
"Details sind mir sehr wichtig"
Patrick Wellinski: Sie haben Willem Dafoe erwähnt. Er spielt eine sehr interessante Figur: Er ist der Manager des Motels, aber gleichzeitig auch eine Art Vaterfigur für viele der Kinder. Und vielleicht auch deren Mütter.
Sean Baker: Ja, mir ist das als roter Faden bei allen Motelmanagern aufgefallen, mit denen wir vorab gesprochen haben. Selbst die, die nicht unbedingt freundlich zu uns waren, strahlten dieses Verantwortungsgefühl den Motelbewohnern gegenüber aus. Diese Motels machen keinen großen Umsatz. Es gibt kaum Mitarbeiter. Der Motelmanager macht fast alles alleine, auch die Reparaturen und die Zimmerreinigung. Ich sah, dass viele von ihnen Kämpfe mit sich ausgemacht haben. Sie hatten viel Mitgefühl mit den Familien und den Kindern, aber ihnen war auch klar, dass sie unter Umständen am nächsten Tag eine der Familien rausschmeißen müssen. Und wo würden die dann schlafen? Auf der Straße, an der Bushaltestelle? Diese Manager müssen also auch ein bisschen auf Distanz gehen, aus reiner Professionalität und Selbstschutz, damit ihnen die Situation nicht zu nahe geht. Dieser Kampf in den Männern hat mich sehr bewegt und mich traurig gemacht. Und ich glaube, auch Willem Dafoe hat das gesehen und es sehr gut und subtil in seine Darstellung integriert.
Patrick Wellinski: Was war Ihr visuelles Konzept? Alle Ihre Filme haben einen sehr eigenen Stil. Was haben Sie für diesen Film mit dem Kameramann besprochen?
Sean Baker: Mein Kameramann Alexis Zabé hat vorher mit dem mexikanischen Regisseur Carlos Reygadas zusammengearbeitet und er hat viele Musikvideos gedreht. Und es war klar, dass er sowohl intellektuelle Arthouse-Bilder als auch die poppig bunte Musikvideoästhetik beherrscht. Ich wollte es irgendwo dazwischen haben. Und dann war da ja auch noch das ganze Spektrum an Farben, das Florida zur Verfügung stellt. Zabé hat ein so gutes Auge dafür. Er weiß, wie man das einfängt und durch Kleinigkeiten verstärkt. Der Film sieht ein bisschen hyperreal aus durch die starke Sättigung der Farben. Er weiß auch, wie man Himmel und Sonnenuntergänge fotografiert. Und seine symmetrische Rahmung bei Architektur ist wunderschön. Wir haben am Anfang sehr viel darüber diskutiert, ob es gut ist, alles schön aussehen zu lassen. Für mich war es stimmig, weil wir die Welt durch die Augen der Kinder sehen. Und so sehr die Menschen auch in Armut leben: Florida ist einfach wunderschön. Es gibt diese sehr ländlichen Gegenden mit Kuhherden nur ein paar Meter von den Motels entfernt. Mit diesen…. oh Mann…. Ich hab‘s vergessen. Wie heißen diese Bäume? Diese typischen Bäume in Florida? Oh Mann. Sind es Zypressen?
Patrick Wellinski: Ihnen sind die Details schon sehr wichtig, oder?
Sean Baker: Ja, was mir sehr wichtig ist, wenn ich irgendwo bin…. Ja, es sind Zypressen… Also bevor Disney da hingezogen ist, waren da überall Kuhherden, Orangenhaine und Zypressen, und diese Seite von Florida wollten wir auch einfangen. Und wegen der Details: ja, ich notiere alles, was mir wichtig scheint, Aufkleber auf Autos, Namen von Läden, die wichtig sind für die Gegend oder im Fall von Florida der Orange Dome, der riesige Orangenladen. Ich musste ihn unbedingt einbauen. Er ist so derartig bekannt in Orlando.
"Die Low-Budget-Zeiten möchte ich hinter mir lassen"
Patrick Wellinski: Welche Rolle spielt das Budget bei Ihren Filmen? In einem Interview haben Sie gesagt: "Ich möchte nicht mehr der iPhone-Typ sein". "Tangerine" war ein besonderer Film, nicht nur, weil er auf einem iPhone gedreht war, sondern auch weil er eine bestimmte Dringlichkeit hatte. Wie wichtig ist das Budget und wie sehr schränkt es Sie ein?
Sean Baker: Als ich das mit dem iPhone sagte, war mir wichtig, dass ich nicht nur dafür bekannt war. Ich war sehr froh darüber, dass ich "Tangerine" mit dem iPhone gedreht habe. Es hat mir ermöglicht, Dinge festzuhalten, die ich mit 35 mm niemals hätte einfangen können. Jetzt haben wir mit 35 mm gedreht und da gilt das gleiche. Es hängt immer von dem Projekt ab. Im Idealfall gibt der Inhalt das Medium vor und nicht anders herum. Aber natürlich will man immer mehr Geld haben. Geld bedeutet mehr Möglichkeiten, mit Geld kann man bestimmte Probleme lösen, und glauben Sie mir, wir hatten viele Probleme.
Gleichzeitig mache ich natürlich einen Film über Armut, über Menschen, die kein Geld haben. Kann ich da Millionen ausgeben? Das fände ich unangemessen. Es gibt also eine Obergrenze, die ich nicht überschreiten möchte. Aber die Low-Budget-Zeiten möchte ich auch hinter mir lassen. Ich empfehle das allen jungen Filmemachern, wenigstens einmal auszuprobieren, weil man bei dem Guerilla-Filmen eine Menge lernt, indem man im Grunde ständig bettelt, leiht und stiehlt. Daraus kann ein großartiger Film entstehen. Aber es kann auch zu einer Menge Chaos in deinem Privatleben führen und dich selbst in ziemlicher Armut halten. Das kann man machen, wenn man jung ist und keine Kinder hat. Ich bin in einer Partnerschaft, möchte aber keine Kinder haben, und das schafft mir eine Menge kreative Freiheiten. Ich empfinde das nicht als Opfer. Es ist einfach so, dass ich nie Kinder haben wollte. Aber das ist bei den meisten anders. Und es ist schwer, in den USA Künstler zu sein. Man muss sich immer bewusst darüber sein, dass das Geschäft ein wichtiger Teil der Kunst ist. Und dass das Geschäftliche zum Überleben dazu gehört.