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Auf der Suche nach dem deutschen Videoessay

Auf der Suche nach dem Videoessay im Internet
Auf der Suche nach dem Videoessay im Internet © dpa / Bernd Von Jutrczenka
Von Patrick Wellinski |
Filmkritik findet meistens schriftlich statt. Oder als klassische Rezension im Radio. Im Internet aber erlebt das filmvermittelnde Videoessay eine wahre Renaissance.
Kaum ein Tag an dem ich nicht in meiner Timeline einen Link bekomme, der zu einem Video führt mit der Aussage: "Unglaubliches Video, guckt Euch das an!" Das war auch neulich der Fall mit dem Video "Pupil". Es ist eine Aneinanderreihung von Einstellungen aus Filmen des Regisseurs Darren Aronofsky. Dabei sieht man nur Augen: Schauspieler, die in oder an der Kamera vorbeisehen. Man könnte jetzt meinen, dass sich daraus etwas ergibt, eine Einstellungsfolge, die auf den Autorenfilmer Aronofsky verweist, dessen ultimatives Filmmittel, das menschliche Auge ist.
Aber dem ist nicht so. Dieses Video könnte man aus dem Werk jedes Regisseurs herausdestillieren. Es sagt nichts über Aronofsky und seinen Stil. Die Kompilationen sind aber die populärste Form des Videoessays. Sie heißen Supercuts und sind – mal besser mal schlechter – zusammengestellte kleine Fan-Hommagen, die im Optimalfall aber eben auch etwas über den visuellen Fetisch einzelner Filmemacher verdichten und präsentieren. So wie es Nelson Carvajal über die Frauenfiguren in Martin Scorsese Filmen gemacht hat.
Supercuts und filmwissenschaftliche Diskurse
Diese Supercuts selber können dann in der Szene weiter interpretiert werden und dienen so als Grundlage auch für filmwissenschaftliche Diskurse. So reagierte die Filmhistorikerin Dina Fiasconaro auf Carvajal-Scorsese-Supercut und deute ihn um. Sie nutzt das gleiche Material, doch setzt sie Zwischentitel ein wie, z.B. "Schmutzige Witze", "Geisteskrankheit" oder "Verbale Erniedrigung" und ändert so radikal den Ton:
Plötzlich bekommen die Bilder von Scorsese eine andere Aussage. Indem Fiasconaro zeigt, wie in Scorsese Filmen über Frauen gesprochen wird, wie sie geschlagen und getreten werden, wird plötzlich eine recht frauenverachtende Handschrift sichtbar - der Filmessay als feministischer Kommentar.
Neben den von den Fans gemachten Supercuts sind diese filmwissenschaftlichen Diskurse das andere Extrem der Online-Videoessays. Doch genau dazwischen hat sich die interessanteste Form etabliert: Das narrative Videoessay. In erster Linie sind das Projekte von Filmkritikern und Bloggern, die dem Film mit den Mitteln des Films auf den Leib rücken wollen und so Dinge erklären und einordnen und vertiefen. Der bekannteste von ihnen ist Kevin Lee. Für die Seite "Fandor" erstellte er über 100 Videoessays. Sein bekanntestes ist das "Spielberg-Face", in dem er die Bedeutung der Gesichter in Spielbergs Filmen analysiert. Lees Arbeiten inspirierten sicherlich auch den interessantesten Newcomer in der Online-Filmessay-Szene.
Nur wenige Videoessays von deutschen Filmbloggern
Tony Zhous Essays sind sehr erfolgreich und doch so anders als die von Lee. Sie sind kurz, klar strukturiert und in einem süchtigmachenden Tempo geschnitten. Seine Videos sind damit perfekte Produkte für eine virale Internetkultur, die Bilderfolgen schnell konsumiert und teilt. In diesen Hypernarrationen gibt es keinen Platz mehr zum Nachdenken, zur Reflektion oder zum Zweifel. Womit wir wieder bei Kevin Lee wären und seinem Ansatz des Essayfilms, den er selbst beim großen Meister dieses Genres gelernt hat, beim deutschen Filmdenker Harun Farocki.
Farockis Meisterwerk "Arbeiter verlassen die Fabrik", in dem er die Geburt des Kinos mit der heutigen Arbeitswelt konfrontiert, ist geprägt von Gedanken, die erst beim Reden geformt werden. Es ist dieses stille Hinterfragen, das dem Film seinen Rhythmus verleiht. Das ist durchaus auch etwas sehr deutsches und doch ist diese Kunst der Filmvermittlung hier fast ausgestorben. Allein der WDR Filmtipp versucht noch unregelmäßig, spät nachts den Blick auf das Kino zu weiten:
Interessant ist, dass die kleine aber gut vernetzte deutsche Filmblogger-Szene sich an die Form des Videoessays nicht wirklich herantraut. Jedenfalls sucht man deutsche Entsprechungen von Kevin Lee oder Tony Zhou vergebens. Doch vielleicht liegt es ja daran, dass die internationale Sprache der Filmkritik stärker als in anderen Bereichen englisch ist.
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