Ein Statement gegen den indischen Paternalismus
Der Polizist Joshis sucht seine verschwundene Tochter. Dabei begegnet er in den Straßen und Nachtclubs Mumbais vielen versklavten Mädchen. "Sunrise" sei auch ein Statement gegen die traditionelle indische Gesellschaft, erklärt Regisseur Partho Sen-Gupta.
Patrick Wellinski: Herr Sen-Gupta, Sie haben einen minimalistischen Film Noir im heutigen Indien gedreht. Ihre Bilder sind voller Leidenschaft für dieses Genre. Aber was ist es denn genau, was Sie gerade am Film Noir so schätzen?
Partho Sen-Gupta: Als ich anfing, mich mit der Idee zu befassen, da spielte für mich die soziale Realität noch eine ganz große Rolle. Das war sozusagen die Basis. Und dann war mir allerdings klar, als ich das Drehbuch schrieb, dass ich mich von dieser rein dokumentarischen, realistischen Arbeitsweise ein bisschen entfernen musste und dass die Figuren einen Kniff finden mussten, wie man diese Geschichte auch anders erzählt.
Und dann hat sich das wirklich aus der Hauptfigur des Vaters ergeben, der ja seine Tochter vermisst. Und das ist ja an sich schon eine sehr düstere, auch sehr leidvolle Ausgangslage. Und da habe ich mir einfach dann den Film Noir oder die Ideen des Film Noir so ein bisschen ausgeborgt, weil ich fand, dass man das psychologisch besser erzählen konnte. Also es geht mehr um das, was er fühlt, was sich in seinem Kopf abspielt, als das, was er sieht.
Eine Hommage an den Film Noir
Und wenn man sich die Geschichte des Film Noir anschaut, dann ist das ja ein Nachkriegsgenre. Und da hatten wir immer den Einzelnen, der gegen etwas angekämpft hat. Und das fand ich wirklich stilistisch ganz interessant in diesem Zusammenhang. Und dann habe ich mir gedacht, diese Geschichte lässt sich so stilistisch im Film Noir, als eine Hommage daran, ganz gut erzählen.
Wellinski: Ist es denn eigentlich eher die Noir-Tradition aus der Literatur, die Sie fasziniert hat, oder, wie ich es jetzt herausgehört habe, die filmische Variante, der filmische Stil?
Sen-Gupta: Eigentlich bin ich dann doch eher von dem Noir-Begriff in der Literatur ausgegangen, weil beim Lesen evoziert der Leser ja Bilder. Und das ist der große Unterschied zwischen Literatur und Kino. Im Kino wird der Zuschauer ja mit Bildern sozusagen bedient. Und dann habe ich aber schon auch versucht, diese beiden Genres, das Noir aus der Literatur und das Noir aus dem Kino miteinander zu verbinden und mich irgendwo in der Mitte zu treffen. Weil man ja nie so genau weiß, was ist hier wirklich real, was ist hier wirklich geschehen, was hat sich die Hauptfigur nur ausgedacht, sich nur vorgestellt. Und das geht ja dem Zuschauer auch ähnlich.
Und ich wollte auch, dass der Zuschauer die Möglichkeit hat, seine eigenen Bilder zu finden, auch Bilder zu ergänzen. Und das Interessante sind natürlich bei Publikumsdiskussionen, wenn mir dann Zuschauer sagen, ich habe bei der Szene an dieses oder an etwas anderes gedacht. Und ich sage, ja, das können Sie. Ich hatte mir das nicht unbedingt so vorgestellt, aber ich finde das interessant, was für Assoziationen Sie haben. Und ich habe sogar die Bemerkung gehört, die ganze Geschichte würde sich nur im Kopf des Protagonisten abspielen. Auch da habe ich gesagt, das ist in Ordnung, das können Sie so sehen. Und ich finde eben, da sind wir dann wieder bei der Literatur, wo der Leser sich eben letztendlich vorstellt: Wie sehen die Figuren aus, was machen diese Figuren? Und das entspricht mir ganz gut auch für diesen Film.
Jedes Jahr verschwinden in Indien 100.000 Kinder
Wellinski: In Ihrem Film bringt uns ja die Form mitten in ein sehr politisches, aktuelles Problem. Es geht um einen Polizei-Officer, der eine Nacht hat, um seine verschwundene Tochter zu finden. Und am Ende des Films erfahren wir, dass in Indien jedes Jahr 100.000 Kinder verschwinden. Ist das etwas, was von der indischen Gesellschaft als Gefahr begriffen wird, oder ist das schon längst eine Art böser Alltag? Weil wir kennen diese Zahl hier eigentlich nicht.
Sen-Gupta: Bevor ich die Frage direkt beantworte, möchte ich Ihnen noch erzählen, warum ich diese Geschichte erzählt habe. Mir fiel diese Geschichte ein, als meine Partnerin schwanger war, als ich mich darauf vorbereitete, Vater zu werden. Und dann fiel mir plötzlich ein Kindheitserlebnis ein, dass man mal versucht hatte, mich zu entführen, und dass diese Entführung nur daran gescheitert ist, dass meine Freunde mich gerettet haben, dass wir sehr laut geschrien haben. Und meine Freunde und zufällige Passanten konnten dann diese Entführung verhindern. Und das fiel mir einfach wieder ein, und dann habe ich mit der Recherche begonnen und habe diese erschreckenden Zahlen plötzlich erfahren.
Mir war überhaupt nicht das Ausmaß bewusst, wie hoch die Anzahl von Kindesentführungen in Indien ist. Dann habe ich mit Nichtregierungsvertretern gesprochen, die mir dann auch Fakten gegeben haben und wirklich erschreckende Zahlen nannten. Und trotzdem habe ich eben versucht, keine reine Dokumentation zu machen, keinen rein realistischen Film zu machen. Aber ich habe natürlich diese sehr konkreten Anhaltspunkte dafür benutzt, um eine Geschichte zu erzählen, zum Beispiel, was es bedeutet, wenn man dann zur Polizei geht und sich erkundigt, was es bedeutet für ein Mädchen, das entführt wird, wo es dann hinkommt.
Die "Entmannung" durch den Verlust eines Kindes
Und in "Sunrise" war es mir wichtig, dass das jetzt kein explizit politischer Film wird, deswegen habe ich das Genre des Film Noir auch benutzt, um sozusagen ein bisschen abzulenken. Aber ich möchte schon, dass der Zuschauer über den Film Noir eben auch eine politische Realität entdeckt. Nur, dass ich eben nicht einen offen sozialpolitischen Film drehen wollte und Zuschauern damit auch eine Lektion erteilen wollte.
Wellinski: Aber Sie haben schon auch einen sehr genauen Blick auf die indische Gesellschaft und vor allem auf die Geschlechtergerechtigkeit da – also wir sind an diesem Joschi, an diesem Polizeikommissar sehr nahe dran. Und natürlich ist das ein Vater, der seine Tochter sucht. Und er versucht, diese Leere irgendwie zu füllen und mit dieser Trauerarbeit umzugehen. Auf der anderen Seite dachte ich, als ich Ihren Film sah, ist das doch auch ein Mann, der eine gewisse Art von Männlichkeit verloren hat, und der diese Männlichkeit versucht wiederzufinden oder neu zu definieren. Ist "Sunrise" auch ein Film darüber?
Sen-Gupta: Das war auf jeden Fall ein sehr wichtiger Aspekt. Joshi ist ja Polizist, aber er ist auch Vater einer traditionellen Familie. Er ist auch ein Mann, er verkörpert das Gesetz, die Gerechtigkeit. Er ist sehr stoisch, eine sehr klassische Vaterfigur. Und er wird in gewisser Weise durch den Verlust des Kindes entmannt, kastriert. Und er ist damit eben auch, verliert er das, was er als Repräsentant der Familie eigentlich bedeutet hat und erleidet dadurch eben einen Imageverlust. Und er muss sich in einer gewissen Weise wieder selbst herstellen, wieder rekonstruieren.
Und das war mir sehr wichtig, in dem Drehbuch dieser Frage nachzugehen: Kann ein Mensch, der sich in einer tiefen Depression befindet, der so einen enormen Verlust erleidet, kann er sich wiederfinden, kann er sich neu konstruieren, kann er wieder zu einem Helden werden? Und in gewisser Weise schafft er es ja, wieder zum Helden zu werden. Er wird wieder der strahlende Ritter in der Rüstung, der in das Schloss eindringt, um das Edelfräulein wieder zu befreien. Und dann am Ende hat er alles wieder zurückgewonnen, was er ursprünglich verloren hat. Und er wird wieder zum Mann, zum Vater. Und er hat sich als Mann eben wieder neu gefunden und neu konstruiert. Weil bis dahin, mit seiner Trauer, hat er sich ja nicht gewagt, in irgendeiner Weise Emotionen zu zeigen. Er hat sich nicht getraut zu weinen. Er hat alles nur verinnerlicht, und damit ist mein Film auch ein Statement gegen die sehr paternalistische, traditionelle indische Gesellschaft und gegen alle Gesellschaften, die so aufgebaut sind.
"Wir sind nicht in der Lage, mit unserem Leiden umzugehen"
Und nun kann man sagen, dass die Rolle der Frau hier sehr klassisch, sehr geschlechterspezifisch ist. Aber sie versucht ja in dem, was ihr möglich ist, aus dieser Passivität auch wieder auszubrechen. Sie hat ja eine ganz andere Form des Leidens beispielsweise. Sie zeigt ihr Leiden sehr offen, während ihr Mann das alles nur unterdrückt und verinnerlicht. Und man könnte sogar meinen, sie sei verrückt geworden, weil sie immer noch glaubt, das Kind sei da, und sie lebt immer noch so, als würde das Kind noch existieren. Aber er ist in gewisser Weise auch verrückt geworden, weil er noch Schatten hinterher jagt, die es gar nicht mehr zu geben scheint.
Und das ist eben auch die Tragödie unserer Gesellschaft, die ich damit ansprechen will. Wenn wir nicht in der Lage sind, mit unserem Leiden umzugehen, wie wir es emotional eigentlich tun sollten. Aber für mich, die entscheidende Frage war einfach: Wenn man so einen Verlust erleidet, inwiefern ist es einem Menschen dann möglich, sich wieder neu zu rekonstruieren.
Wellinski: Sie finden sehr eindrückliche Bilder, alptraumhafte Bilder. In dem Film ist es immer dunkel, es regnet, Schatten jagen unseren Helden. Dann gibt es eine Vorahnung eines dunklen Lokals, eines Klubs, der wie aus der Hölle erscheint. Wie gestalten Sie eigentlich diese monströsen Bildern, woher nehmen Sie die Inspiration? Bei anderen Filmen, in der Malerei?
Sen-Gupta: Also da gibt es ganz viel, das mich inspiriert, und ich schnappe in gewisser Weise alles auf, auch wenn ich unterwegs bin, wenn ich auf Reisen bin. Das ist Literatur, das ist Malerei, das kann aber auch eine Skulptur sein, und natürlich auch das Kino. Und wir sehen natürlich unglaublich viele Bilder jetzt auch mit unseren Smartphones. Wir werden von Bildern doch sehr stark berieselt. Ich könnte Ihnen jetzt wirklich eine Liste vielleicht mit Hunderten von Beispielen geben. Aber andererseits ist es auch wieder eine sehr emotionale Geschichte.
Immer tiefer in den Tunnel hinein
Und diese Paradise Bar, auf die Sie angesprochen haben, die habe ich ja versucht, wie einen Tunnel zu inszenieren. Das heißt, die Hauptfigur, dieser Polizist dringt immer tiefer in diesen Tunnel und damit auch in seine eigene Dunkelheit ein. Und ab und zu gibt es eben diese Lichtblitze, die dazu führen, dass er innehält, und dann wiederum wieder weitergeht in diesem Tunnel. Aber auch das war eher so ein Gefühl, was ich hatte, und war jetzt nicht direkt an ein Kunstwerk angelehnt, obwohl alles natürlich, was ich gesehen habe, mich in gewisser Weise auch beeinflusst. Und es gibt dann zum Beispiel diese eine Szene, wo die Hauptfigur zum ersten Mal weint. Aber er weint leise, und da war es natürlich Edvard Munch und sein Werk "Der Schrei", das mich inspiriert hat. Und es ist auch ganz klar, man spürt ja, wenn man dieses Bild sich anschaut, hat man ja das Gefühl, es wäre ein sehr schreiendes, ein sehr lautes Bild. Also natürlich gibt es diese Inspiration.
Wellinski: Mister Sen-Gupta, thank you very much for your movie, for your time, and I wish you the best of luck!
Sen-Gupta: Thank you very much!
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