"Po-lin – Spuren der Erinnerung", PL 2008
Regie: Jolanta Dylewska, Darsteller: Mit der Stimme von Hanna Schygulla, 85 Min.
DVD, Absolut Medien, 14,90 Euro
Originalaufnahmen aus den Schtetln
In "Po-lin" hat die polnische Regisseurin Jolanta Dylewska Amateuraufnahmen aus polnischen Dörfern der 20er- und 30er-Jahre zu einem Dokumentarfilm montiert. "Hier bleiben wir" heißt der Titel auf deutsch - eine Hoffnung, die sich meist nicht erfüllte.
Sprecher: "In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts besuchten polnische Juden, die in die USA ausgewandert waren, ihre Verwandten in Polen. Manche von ihnen hatten eine Filmkamera dabei."
Noch bevor der Film beginnt, wird im Vorspann die Entstehungsgeschichte jener Bilder erklärt, die den Zuschauer kurz darauf in eine andere, längst vergangene Zeit transportieren.
"Diese, mit ungeübter Hand und oft von unbekannten Autoren gedrehten Amateuraufnahmen blieben erhalten und sind für uns die einzigen Dokumente der vernichteten Welt der polnischen Juden."
Die Dokumentation "Po-lin: Spuren der Erinnerung" schafft das Unmögliche: Der Film erweckt die Welt der polnischen Schtetl für einen kurzen Moment zum Leben.
Sprecherin Hannah Schygulla: "Sommer 1933 in Horodoc: Aus Amerika trifft David Shapiro mit seiner Ehefrau zu Besuch bei Verwandten ein. Und neues Leben kommt ins Schtetl."
Und dann sieht man sie: Familien, Großväter mit Kleinkindern auf dem Arm, eine uralte Frau in schwarz, ein junges Mädchen, ein junger Mann mit einem Grammophontrichter über der Schulter. Menschenensembles, die sich aufstellen für vielleicht nie gesehene Verwandte jenseits des Atlantik. Manche von ihnen gehen auf die Kamera zu – als ob sie dem Zuschauer aus der Vergangenheit entgegengingen.
Die in amerikanischen und israelischen Archiven gefundenen Stummfilme ergänzt die polnische Regisseurin Jolanta Dylewska mit Zitaten aus Berichten, die das Leben in den Schtetl(n) zwischen den beiden Weltkriegen beschreiben. Geradezu unheimlich eindrücklich wird der Film an den Stellen, wo es ihr gelingt, die bewegten, stummen Bilder in den Erinnerungen beschriebenen Personen zuzuordnen:
Film-Ausschnitt: "Moishe Fuchsman, genannt Moishele. In seinem Haus herrschte Armut. Doch er sammelte Geld, um noch Ärmeren zu helfen. Er fastete fast das ganze Jahr über. Jeden Morgen badete er im Fluss Starah. Denn eine reine Seele soll in einem reinen Körper wohnen. Juden, Orthodoxe und Katholiken bitten ihn um seinen Segen. (Pause) Noch zehn Jahre und zehn Monate."
Jahrhundertelange Nachbarschaft
1939 lebten 3,5 Millionen Juden in Polen, rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes. Sie waren Nachbarn – die polnischen Juden und die Polen.
Sprecherin Hanna Schygulla: "… das sind die letzten von Dutzenden Generationen von Polen, die jahrhundertelang zusammen mit den polnischen Juden gelebt hatten. Die letzten Zeugen, die uns mit dem damaligen Leben verbinden. (Die letzten…)"
Für ihren Film hat Jolanta Dylewska neben der Auswertung schriftlicher Quellen auch Zeitzeugen interviewt, die als Kinder polnischer Eltern ihre ersten Lebensjahre in den Schtetln erlebten.
Film-Ausschnitt: "… dann war da noch der Grünberg, er hatte ein Schreibwarengeschäft. Er bezog auch Bücher und man konnte bei ihm sogar Schulbücher kaufen. Als mir mein Schulbuch während des Schuljahres gestohlen wurde, ging mein Mutter zu ihm und er sagte: Frau Boriysiak, das lässt sich machen. Es zeigte sich, dass die Mathebücher in der polnischen und in der jüdischen Schule gleich waren. Meine Mutter fragte, was das kosten solle, und er sagte: Nichts. Das Buch hätte er von einem Bekannten…"
Die Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart bilden häufig Bilder der Dörfer aus den 30er-Jahren, von denen dann zu Bildern aus der Gegenwart übergeblendet wird. In den aktuellen Bildern sieht man Relikte des einstigen jüdischen Lebens, halb verdeckte Davidsterne oder übergemalte Mesusot in den Türrahmen.
Film-Ausschnitt: "Vor dem Krieg war das Zusammenleben von Polen und Juden ganz normal. Das Wappen von Kolbuszowa zeugt davon. Man sieht zwei Hände, die sich umschließen. Eine jüdische und eine polnische. Den Davidstern und das Kreuz."
Am Ende des Films sieht man einen der wenigen jüdischen Einwohner eines Schtetls, die das Inferno überlebten. Auch wenn die Regisseurin der Versuchung nicht widerstehen konnte, seinen Auftritt pathetisch zu inszenieren – die Wirkungskraft ihres Filmes wird dadurch nicht geschmälert.
Die Schtetl-Kultur in Bildern wiederauferstehen zu lassen, wo es bislang nur Texte gab – das darf man ruhig als eine kleine Sensation bezeichnen. Viele der bisher nur aus schriftlichen Erinnerungen bekannten Schicksale haben nun auch ein Gesicht. Angesichts dieser Bilder kann man sich so gar nicht vorstellen, wie jemand diese kleinen Leute zu Feinden erklären konnte. Sie – und ihre Zeit – hat Jolanta Dylewska nicht nur dem Vergessen entrissen, sondern sie hat ihnen auch ein kleines, unaufdringliches Denkmal gesetzt.