"Verstehen, was damals passiert ist"
Vier Tage lang herrschten in Rostock im August 1992 fast bürgerkriegsähnliche Zustände. Über die ausländerfeindlichen Ausschreitungen im Stadtteil Lichtenhagen hat Burhan Qurbani einen Film gedreht. Er habe Jugendliche ins Zentrum gestellt, weil vor allem von ihnen die zerstörerische Energie ausging.
Susanne Burg: Rostock Lichtenhagen – man muss nur den Namen erwähnen, und bei vielen Menschen hierzulande spulen sich gleich Bilder im Kopf ab, Bilder von einem Mob aus Jugendlichen, die – angefeuert von rund 3000 Zuschauern – ein Asylbewerberheim in Brand setzen. Vier Tage lang herrschten in Rostock 1992 fast bürgerkriegsähnliche Zustände. "Wir sind jung. Wir sind stark" – so heißt ein Spielfilm, der am Donnerstag anläuft. Und er erzählt von jenem Tag des 24. August 92, als die Gewalt eskalierte. Im Zentrum des Films stehen eine Handvoll Jugendliche. Sie wissen mit sich nichts anzufangen, randalieren hier und dort, und einige steigern sich immer weiter hinein in ihre rechtsradikalen Ideen.
Filmausschnitt:
"Morgen um dieselbe Zeit ist Rostock ausländerfrei."
Und erzählt wird auch die Geschichte einer Bewohnerin des Sonnenblumenhauses, der Vietnamesin Lien, die gerne einfach friedlich in Deutschland leben möchte. Regisseur des Filmes ist Burhan Qurbani, und er ist jetzt hier im Studio. Hallo!
Burhan Qurbani: Hallo!
Burg: Sie waren elf, als die Ausschreitungen in Rostock Lichtenhagen stattfanden und lebten damals in Frankfurt am Main. Haben Sie eine Erinnerung an die Zeit?
Qurbani: Ich kann mich sehr, sehr stark und sehr gut daran erinnern. Es war ja auch ein Medienereignis, es war etwas, was die ganze Zeit im Fernseher lief, und das war schon sehr, sehr eindrücklich. Vor allem gerade, weil ich so jung war und weil ich da eben gerade erst angefangen, Mensch zu werden, wurde mir plötzlich ganz klar, dass ich irgendwie fremd bin. Ich hab schwarze Haare und Schlitzaugen wie die Menschen, die in diesem Haus wohnen, was da angegriffen wird. Und das war etwas, was man nicht so leicht abschütteln kann.
Burg: Weil Sie einen afghanischen Hintergrund haben.
Qurbani: Genau. Meine Eltern kommen aus Afghanistan, sind 1979 nach Deutschland gekommen. Ich bin 1980 in Deutschland geboren, und – ja.
Burg: Und war das dann auch die Motivation, fast 20 Jahre später sich diesem Thema noch mal zu widmen und daraus einen Film zu machen?
Qurbani: Sie haben eben noch gesagt, dass vielen diese Bilder vor den Augen abrollen, wenn man von Rostock oder Rostock-Lichtenhagen hört. Wir haben diesen Film gemacht, weil wir das Gefühl hatten, dass das eben nicht mehr der Fall ist; dass viele Menschen, sagen wir, in meiner Generation - ich bin jetzt um die 30 - sich nicht mehr wirklich gut erinnern können. Und die Generation meiner Schauspieler, die alle um die 20 sind, die weiß gar nichts mehr davon.
Und das war für uns etwas, was als Zustand nicht funktioniert. Wir müssen oder dürfen diese Ereignisse verlieren und dürfen diese Ereignisse nicht vergessen. Und wir haben damals, Anfang 2010, angefangen, an diesem Film zu arbeiten, da wussten wir noch nichts von der NSU. Damals wussten wir nicht, dass es mal eine Partei geben wird wie die AfD. Damals wussten wir nicht, dass es Bewegungen geben wird wie die Hogesa oder die Pegida. Wir wollten einfach einen Film machen, der gegen das Vergessen, andreht.
Der Rest war die Mitte der Bevölkerung
Burg: In Ihrem Film zeigen Sie jetzt eine Welt, anfangs in Schwarz-Weiß, sie mutet geradezu apokalyptisch an. Man sieht Hochhäuser, brennende Autos, Müll. Und ganz viel Frust, Anspannung, Aggression liegt in der Luft. Es ist vor allem die Stimmung der Zeit, die Sie auf sehr beeindruckende Art und Weise transportieren, finde ich. Wie wichtig war Ihnen das – bei allen historischen Details, die Sie ja auch recherchiert haben –, genau diese Stimmung zu transportieren?
Qurbani: Ich glaube, genau das war etwas, was uns extrem am Herzen lag. Wir können so vieles nicht erzählen. Wir konnten nur einen Film über Lichtenhagen machen, wo wir gern fünf gemacht hätten. Und was wir versucht haben, war, ein Ereignis, das wir nicht erklären können, und eine Stimmung, die wir heute vielleicht nicht mehr so nachvollziehen können, nachfühlbar zu machen und auszuerzählen, um so ein bisschen zu verstehen, was damals passiert ist.
Burg: Sie haben eben lange recherchiert, zeigen auch im Film, wie die breite Masse am Abend des 24. August vor dem Sonnenblumenhaus steht und pöbelt, Menschen allen Alters. Die Jugendlichen waren diejenigen, die dann randaliert haben. Man hätte den Film ja auch aus einer anderen Perspektive erzählen können. Warum haben Sie beschlossen, eine Gruppe Jugendlicher ins Zentrum zu stellen?
Qurbani: Eben, weil natürlich die größte Energie, die größte Kraft, die damals so zerstörerisch geworden ist, von diesen Jugendlichen ausging. Ich denke, wenn man eine Welt erzählt, drei Jahre nach der Wende, in Ostdeutschland, dann erzählt man ja eine Geschichte vor allem von der großen Enttäuschung. Die Euphorie der Wende war vorbei, plötzlich ist man in diesem neuen Deutschland, und gerade die Elterngeneration der Jugendlichen in meinem Film ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie die Jugendlichen aus den Augen verlieren.
Das heißt, die Eltern müssen ihr Leben neu ordnen, müssen irgendwie damit zurecht kommen, dass alles, womit sie aufgewachsen sind, was sie gelernt haben, dass das plötzlich nichts mehr oder viel weniger wert ist, als es davor war. Und sie vergessen ihre Kids. Und diese Kinder, die sind zwischen 18 und 20, die starten in ein Leben, aber merken, dass sie eigentlich keine Zukunft haben. Und das macht sie wütend.
Burg: Die meisten der Jugendlichen, die Sie zeigen, entsprechen von ihrer sozialen Herkunft her unseren Vorstellungen von jungen Neonazis. Sie sind nicht gerade behütet aufgewachsen, das muss man mitbekommen, auch nicht unbedingt gebildet. Aber dann ist da noch der Protagonist Stefan, gespielt von Jonas Ney. Der scheint erst mal nicht so recht in die Gruppe zu passen. Er wirkt intelligent, aus gutem Hause, ist Sohn eines Lokalpolitikers, scheint erst mal nicht so wirklich überzeugt zu sein von der Neonazi-Ideologie. Und doch ist er derjenige, der die Brandsätze auf das Sonnenblumenhaus wirft. Und man denkt fast, er tut es aus einem gewissen Frust heraus. Wie repräsentativ ist diese Figur für die damalige Zeit?
Qurbani: Was damals so eindrücklich war, war die Tatsache – natürlich waren 3000 Menschen am Ende vor diesem Haus, die gegrölt und randaliert haben und die dieses Haus in Brand gesetzt haben. Aber von diesen 3000 Menschen waren allerhöchstens 500 Menschen wirklich ideologische Nazis. Der Rest, das war die Mitte der Bevölkerung, die dort zusammengekommen ist.
Und weil die meisten Jugendlichen damals vor dem Haus keine ideologischen Nazis sind, haben wir Figuren gewählt und eben auch eine Hauptfigur, die aus der Mitte der Bevölkerung kommt, die eigentlich schlau ist, die viel zu schlau ist, um sich diesem Mob anzuschließen und die eben an diesem Tag alles erlebt, was man mit 18, 19 Jahren erlebt. Man erfährt Freundschaft, man erfährt Liebe, man sucht nach irgendeinem Kontakt zu der Erwachsenenwelt und kommt nicht rein. Und das ist auch eine Geschichte so einer perversen Erwachsen-Werdung, Mann-Werdung.
Jede Geschichte hat einen eigenen Kamerastil
Burg: Ist aber auch fast nur die Geschichte einer perversen Gruppendynamik, denn diese Gruppe scheint gar nicht wirklich so eine eingeschworene Gemeinschaft zu sein. Eigentlich sind die Spannungen innerhalb dieser Gruppe aus Jugendlichen fast noch größer als all das, was drum herum passiert.
Qurbani: Wir wollten verhindern, dass man zu einfach in Erklärungsmodelle fällt, die wir kennen: sozial schwacher Haushalt, Eltern, die entweder ein Alkoholproblem haben oder arbeitslos sind und deshalb auch Nazi-Kinder erzeugen. Das stimmt so nicht, und das war uns als Erklärungsmodell zu einfach, und dieses Erklärungsmodell liefern wir mit unseren Figuren nicht.
Burg: Bei dem, was Sie eben erzählten, wie wichtig war da auch die Kameraperspektive? Weil mir aufgefallen ist, dass Sie sehr unterschiedliche Perspektiven wählen. Mal von unten, Aufsicht, Vogelperspektive ...
Qurbani: Wir erzählen drei Geschichten, und jede Geschichte hat von uns einen eigenen Kamerastil bekommen. Wir erzählen also die Geschichte dieser Jugendlichen, indem sich alles im Kreis bewegt, indem sich die Gewalt irgendwie auch im Kreis bewegt und potenziert. Und das macht dann auch die Kamera. Die Kamera fährt um diese Menschen herum oder fährt im Kreis. Dann haben wir Lien, die Vietnamesin, die in dem Haus wohnt und auf eine Art auch letztlich gejagt wird.
Und wir haben dort in dieser Geschichte, immer wieder arbeiten wir mit der Vogelperspektive, arbeiten wir mit der beobachtenden Perspektive. Sie ist praktisch ständig im Visier des Jägers. Und Devid Striesow spielt diesen Lokalpolitiker Martin Boll, der gegen die Wand gefahren ist und mit dem Rücken zur Wand steht, der sich seiner Verantwortung nicht stellt. Und so sind bei ihm alle Bewegungen auch relativ geradlinig, horizontal eben an dieser Wand, an der er sich entlangschleicht.
Burg: Und dann ist ja da noch die Farbgebung, eigentlich alles in Schwarz-Weiß. Aber Sie erzählen die Geschichte chronologisch mit eingeblendeten Uhrzeiten. Nach 19 Uhr 30 spitzt sich die Lage zu, und da wechseln Sie von Schwarz-Weiß zu bunt. Warum? Ist uns die Welt in bunt dann doch noch näher als die des eher historisierenden Schwarz-Weiß?
Qurbani: Ich denke schon. Wie Sie gesagt haben, Schwarz-Weiß historisiert, und es ästhetisiert und es distanziert den Zuschauer. Der Zuschauer hat die Möglichkeit, sich zurückzulehnen und hat die Möglichkeit, das alles von außen zu betrachten. Und in dem Moment, in dem wir in die Farbe wechseln, signalisieren wir auch, das ist jetzt echt, das ist echt passiert. Alles, was du davor gesehen hast, das hält sich an eine Chronologie, aber es sind fiktive Figuren, die sich in einem fiktiven Raum bewegen.
Und jetzt bist du in den Geschehnissen drin. Die Kamera in ihrem Stil verändert sich, die Schnitte sind schneller, wir schießen viel von der Hand. Wir wollten dem Zuschauer auch wirklich dieses Gefühl von Unmittelbarkeit geben, den Ton, die Gefahr und auch dieses sensorische Gefühl, plötzlich in dieser Menge zu stehen. Es ist so ein bisschen wie so eine Symphonie mit einem Paukenschlag. Das heißt, du wirst bis zu einem gewissen Grad als Zuschauer eingelullt – ich glaube, dass die Geschichte durchaus spannend ist, bis zu dem Punkt, aber dann kommt der Paukenschlag, und mit dem soll sich auch die Rezeption des Films verändern.
Burg: Ab Donnerstag können Sie sich selber ein Bild machen von dem Film. Dann kommt er nämlich ins Kino. Er heißt "Wir sind jung, wir sind stark". Burhan Qurbani ist der Regisseur des Films – vielen Dank für Ihren Besuch, Herr Qurbani!
Qurbani: Danke für die Einladung!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.