Anarchistisch durch die Kinogeschichte
Dem Wort Archiv haftet etwas Verstaubtes an: Objekte, Bücher, Akten, Urkunden, Briefe werden erfasst, katalogisiert und wegsortiert. Doch ein Archiv, das sich öffnet, kann zu einem Ort des kulturellen Austausches werden: Dieses Konzept verfolgt das Berliner Arsenalkino mit seinem Living Archive.
Schon vom weiten sieht man den Schornstein. Im Wedding, unweit der vielbefahrenen Müllerstraße, liegt das 1911 erbaute, heute denkmalgeschützte Krematorium mit seinem gedrungenen Kuppeldach. Kaum hat man das Tor durchschritten, scheint der Straßenlärm plötzlich weit weg zu sein, Ruhe kehrt ein.
Jörg Heitkamp: "Die Idee architektonisch war: Man sollte über diese große Wiese hier einen langen Antritt zum Krematorium haben, um sich innerlich zu fassen. Dann kommt man in den Innenhof hinein, soll von den beiden Seitenarmen gehalten werden, um dann in der Kuppelhalle mittendrin die Seele aufsteigen zu lassen."
Jörg Heitkamp, einer der Mitbegründer von "silent green", führt uns zu den Gebäuden. In den Seitenflügeln haben sich Galerien niedergelassen, sitzen Plattenlabel und das Musicboard Berlin. In der Kuppelhalle steht auf einer kleinen Bühne ein Klavier. Eine Kinoleinwand und eine Soundanlage wurden installiert, aufeinandergestapelte Stühle warten auf die nächsten Besucher.
"Der Gedanke ist ja, dass Freiräume in Berlin immer weniger werden in den letzen zehn bis 15 Jahren. Ganz normal aus ökonomischen Veränderungen, die hier in der Stadt stattfinden. Der Platz wurde immer enger, und dann kam dieses Gebäude, was wir erwerben konnten. Und wir führen es jetzt Stück für Stück in eine künstlerische Nutzung hinein."
Nicht das Kommerzielle, sondern die Idee steht im Mittelpunkt
Nicht das Kommerzielle steht bei dem Kunstquartier "silent green" im Mittelpunkt, sondern die Idee, Kreative und Künstler unter einem Dach zu versammeln, damit sie - salopp gesagt - über ihren eigenen Tellerrand hinausschauen können. Verschiedene Medien - wie Bildende Kunst und Film - sollen hier in entspannter Atmosphäre aufeinander treffen können - sagt Stephanie Schulte Strathaus vom Berliner Arsenalkino .
Stephie Schulte-Stratthaus: "Uns verbindet jetzt nicht immer eins zu eins der Gegenstand, aber eine bestimmte Haltung, Utopie, visonäre Herangehensweise an unsere Arbeit. Wir verbringen Zeit miteinander hier. Es gibt schon jetzt eine Reihe von Projekten, die gemeinsam diskutiert werden. Die einzelne Partner nur bilateral verbinden, aber es gibt überhaupt keinen Zwang. Es gibt überhaupt keine Zwänge der Zusammenarbeit, wir haben unsere eigene Identität und auch eigene Geschichte."
Auf eine lange und traditionsreiche Geschichte kann das Arsenal - das Institut für Film und Videokunst - tatsächlich zurückblicken. Seit seiner Gründung in den siebziger Jahren versteht es sich nicht nur als Abspielstätte von Filmen, vielmehr sucht man die Diskussion mit Filmkreativen aus allen Bereichen, präsentiert filmhistorische Programme und unabhängig produzierte experimentelle und politische Filme.
"Die Tür muss immer geschlossen bleiben, um die klimatischen Bedingungen stabil zu halten."
Mittlwerweile befinden wir uns im Souterrain des ehemaligen Krematoriums. Hier liegen auf 525 Quadratmetern rund 10.000 Filmkopien, die das Arsenal seit seinen Anfängen sammelte. Es ist eine Sammlung, die dem freien Geist der Institution entspricht.
"Die Sammlung zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie nicht wie in vielen anderen Archiven aus einem Sammlungsbeschluss beruht. Es ist kein deutsches Filmarchiv, es gibt kein einzelnes Kriterium ...."
Revolutionsklassier und Undergroundfilme
Der Gang durch das Archiv gleicht einem anarchistischen Streifzug durch die Kinogeschichte. Hier treffen die bildgewaltigen Revolutionsklassiker von Sergej Eisenstein auf Undergroundfilme aus dem New York der siebziger Jahre, während im nächsten Regal schon der Westerner John Wayne auf seinen Einsatz wartet.
Auch der Nachlass des deutschen Essayfilmers Harun Farocki ist hier zu finden. Die Filmbestände der sowjetischen Armee oder politisch brisante Filme aus Chile oder auch Kuba, die vor den diktatorischen Machthabern in Sicherheit gebracht wurden.
"In der Tat haben viele Filme wirklich nur bei uns überlebt. Aber wir wissen das nicht immer, weil sich das im Laufe der Jahre verändern kann. Insofern sind wir darauf angewiesen, dass alle, die hier sichten, uns Bescheid sagen. Denn in dem Moment, wo man es weiß, hat man den Filmen gegenüber eine ganz andere Verantwortung und einen anderen Handlungsbedarf."
Auch das gehört zur Idee des Living Archive: sicher zu stellen, dass die Filme weiterleben. Sie zu restaurieren, eventuell zu digitalisieren. Für ein kleines Entgelt kann jeder einen der analogen Sichtungsplätze mieten, um für Tage oder Monate in der Kinogeschichte zu versinken.
"... insofern ist der Umzug hier nach Silent Green ein Aufklärungsprojekt, wer zu seinen Lebzeiten noch möglichst viele Filme sehen möchte, kann sich nicht darauf verlassen, sie im Internet zu finden, der muss wirklich noch analoge Kopien am Steenbeck sichten. Er darf das auch.Wir sehen darin vielmehr eine Möglichkeit, dass die Filme in ihrem Weiterleben zu unterstützen, denn dadurch dass sie gesichtet werden, verbreiten sich sich auch im kollektiven Gedächtnis der Menschen."