Filme der Woche

Gestörtes Mutter-Sohn-Verhältnis

Antoine-Oliver Pilon (r) als der gewalttätige Sohn Steve und Anne Dorval als seine Mutter Diane in einer Szene des Films "Mommy" .
Antoine-Oliver Pilon (r) als der gewalttätige Sohn Steve und Anne Dorval als seine Mutter Diane in einer Szene des Films "Mommy". © dpa/ Shayne Laverdiere/Weltkino Filmverleih GmbH
Von Anke Leweke |
"Alles über Mütter" - das ist das Leitmotiv von Xavier Dolans bisherigen Filme. Man könnte auch von ödipalen Exzessen sprechen. Die gibt es auch in seinem neuen Film "Mommy", den Dolan als eine Art mütterliche Rache verstanden wissen will.
Die Mutterfigur aus dem Liebesthriller "Sag nicht, wer Du bist" scheint jedenfalls direkt aus einem Hitchcock-Film in die kanadische Provinz herüber gewandert zu sein. Die Kamera hält dem eiskalten Blick der ältlichen Frau stand, wenn sie auch nach dem Tod ihres Sohnes dessen Leben weiter dominiert.
In "Lawrence anyways" wiederum schwenkt das Objektiv von einem Gesicht aufs nächste, als der Sohn seiner Mutter erklärt, dass er sich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen möchte. Das Mutterprinzip und -gesetz, die Überfrau, das Weib, die Gebärende, das Mütterliche - in Dolans Filmen scheinen die Söhne immer noch von einer unsichtbaren Nabelschnur festgehalten und gefesselt. Sie brauchen den Blick der Mutter, um zu existieren und wehren ihn gleichzeitig ab, wie in Dolans autobiografischem Regiedebüt "Ich habe meine Mutter getötet".
War diese wutschnaubende Abrechnung aus der Perspektive des 16-jährigen Hubert (von Dolan selbst gespielt) gedreht, der gerade seine Homosexualität entdeckt und sich von der Mutter nicht gebührend wahrgenommen fühlt, nimmt "Mommy" nun ihre Perspektive ein. Als eine Art mütterliche Rache möchte Dolan sein neues Werk verstanden wissen.
Unkontrollierbarer Sohn
Gespielt wird die Mutter wieder von der wunderbaren Anne Dorval, die sich in ihrer knallengen, schrillen Teeniekluft so heimisch fühlt, dass auch der Zuschauer sie attraktiv findet. Während ihr manchmal ordinäres Auftreten, ihre derben Sprüche etwas von einem Schutzschild haben, als müsse sie ihre eigene Verletzlichkeit permanent überspielen. Verletzt wird sie auch von ihrem Sohn Steve, der an ADHS leidet, der sich nicht kontrollieren lässt.
Bei Dolan ist ein gestörtes Mutter-Sohn-Verhältnis ein unabänderliches Gesetz, das durch die ADHS-Krankheit von Steve noch einmal wie durch eine Lupe vergrößert wird. Diane und Steve können einander nur im Extrem begegnen, sich küssen oder schlagen, sich streiten oder lieben. Doch wie die Darsteller in einer antiken Tragödie versuchen auch sie den Ausbruch. Mit dabei die verschüchterte Nachbarin Kyla, die ein eigenes Trauma zu bewältigen hat.
Gemeinsam nimmt sich das Trio eine Auszeit vom Schicksal, gemeinsam bündeln sie ihre Einsamkeit zu einer Trutzburg, hinter der sie das eigentlich Unmögliche versuchen zu leben. Wie die Figuren im Film entwickelt auch dieser dabei sein ganz eigene, durchgeknallte Erzähldramaturgie.

"Mommy"
Kanada 2014; Regie: Xavier Dolan; Mit: Antoine-Olivier Pilon, Anne Dorval, Susanne Clément; Länge: 148 Minuten

Programmtipp:
Hören Sie gegen 14.30 Uhr ein Interview mit Xavier Dolan, das unsere Kollegin Susanne Burg geführt hat. Sie hatte ihren vierjährigen Sohn dabei, der sich überhaupt nicht für Dolan interessierte, was diesen wiederum aus der Fassung brachte. Die Geschichte einer merkwürdigen Begegnung - hier zum Nachhören.

Xavier Dolan: Eine Mutter-Sohn-Begegnung - zum Fimstart von "Mommy"; Interview mit Susanne Burg (Audio)

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