Kinder rücken die Welt der Eltern zurecht
Zum 120. Geburtstag von Erich Kästner kommen einige Verfilmungen seiner Romane wieder in die Kinos. Medienpädagoge Christian Exner sagt: "Das fliegende Klassenzimmer" und andere haben viel dazu beigetragen, den Kinderfilm auch für Produzenten wieder populär zu machen.
Susanne Burg: Der 120. Geburtstag von Erich Kästner naht. Ende Februar ist es soweit, und im Vorfeld, nämlich am Donnerstag, kommen als Wiederaufnahme noch einmal drei Kästner-Verfilmungen ins Kino: "Pünktchen und Anton", "Emil und die Detektive" und "Das fliegende Klassenzimmer", alle erschienen zwischen 1999 und 2003. Sie stehen in einer langen Reihe von Kästner-Verfilmungen. Warum Kästner so beliebt ist und seine Romane sich so gut zum Verfilmen eignen, darüber spreche ich mit Christian Exner, Medienpädagoge und wissenschaftlich-pädagogischer Mitarbeiter am Deutschen Kinder- und Jugendfilmzentrum. Er ist in einem Studio in Wuppertal, guten Tag!
Christian Exner: Guten Tag!
Burg: Es gibt ja wahnsinnig viele Kästner-Verfilmungen, von "Emil und die Detektive" alleine acht. Warum wurde Kästner eigentlich so häufig verfilmt? Ist es sein bekannter Name, oder eignen sich die Romane auch in besonderer Art und Weise?
Exner: Ich glaube schon, dass Kästner einen besonderen Ansatz des Erzählens hat. Also zum einen natürlich, es ist wirklich Kinderliteratur im Sinne von, die Kinder stehen voll im Mittelpunkt, ihre Perspektive wird eingenommen, und das Besondere jetzt bei Kästner ist, es gibt da immer so ein Element von moralischer oder pädagogischer Grenzüberschreitung. Das heißt, die Kinder tun etwas immer mit den besten Absichten und für den guten Zweck, aber Emil hat zum Beispiel ein Denkmal verunstaltet und kann sich der Polizei nicht mehr anvertrauen und muss dann auf eigene Faust sein Problem, dass ihm Geld geklaut wurde, lösen zusammen mit anderen Kindern.
Also da spielt Kindersolidarität eine Rolle, da gibt es die Perspektive der Kinder, die von vorne bis hinten in der Erzählung durchgehalten wird, und es gibt dieses Element, wo der Leser, die Leserin oder auch die Zuschauer im Kino sofort Verbündete des Protagonisten werden, nämlich die Kinder haben etwas getan, was sie dann wieder zurechtrücken müssen, sie wollen die Welt letztlich auch der Eltern ein Stück besser machen, sie wollen Probleme lösen, machen das auf eigene Faust, und da entsteht direkt Spannung, also so ein bisschen eine Spur Suspense auch im Hitchcockschen Sinn, also dass man als Zuschauer Verbündeter, oder als Leser, der kindlichen Helden ist.
Die Figuren wurden der Zeit angepasst, das Thema blieb
Burg: Die erste "Emil und die Detektive"-Verfilmung stammt aus dem Jahr 1931 von Gerhard Lamprecht. Die Filme, die jetzt ins Kino kommen, eben von zwischen 1999 und 2003, alle sind produziert worden von einer Frau, Uschi Reich. Was zeichnet jetzt diese Verfilmungen aus?
Exner: Ja, also man muss fairerweise sagen, die Trilogie – ich bezeichne sie selber auch gerne als Uschi-Reich-Trilogie, aber da steht auch noch ein anderer Name auf der Produzentenseite, Peter Zenk, der da ein enger Verbündeter der Uschi Reich war — aber tatsächlich, also Uschi Reich hat so ihre ganz persönliche Leidenschaft und Liebe zu den Kästner-Verfilmungen da ausgelebt und hat, glaube ich, zu einem guten Zeitpunkt, also vor 20 Jahren, als sich eigentlich der 100. Geburtstag von Erich Kästner jährte, ihre eigene Kästner-Nostalgie aus ihrer eigenen Kindheit wieder aufleben lassen und sich da mit sehr viel Leidenschaft diesen Stoffen gewidmet. Es ist ihr etwas gelungen, was, glaube ich, mit dem großen Potenzial, das Kästner mitbringt, gar nicht einfach ist, weil man viele Kritiker eigentlich auch gegen sich haben könnte, die dann sagen, das ist aber nicht der Original-Kästner, also sie musste das ja modernisieren, damit es in die Zeit der End-90er-Jahre oder 2000er-Jahre passt.
Das heißt, die Figuren wurden anders. Aus der Mutter bei "Emil und die Detektive" wurde ein Vater, der alleinerziehend ist und auch so ein bisschen lebensuntüchtig ist und der ein Arbeitslosigkeitsproblem hat. Also da hat man schon ein sehr gegenwärtiges Problem, mit dem sich Emil beschäftigen muss. Das ist auch sicher kein Zufall, dass die Mädchenfiguren dann bei diesen Kästner-Verfilmungen stärker hervortreten. Also bei "Emil und die Detektive" hat Pony Hütchen einen viel aktiveren Part. Also eigentlich ist die in die Rolle des Gustav geschlüpft, der dann in dem Klassikerfilm mehr in Berlin so die Regie führt und Anführer der Gang ist. Also bei der Neuverfilmung ist das die Pony. Bei "Das fliegende Klassenzimmer" taucht eine Figur auf, die hat Kästner so gar nicht gehabt, das ist die Mona, die dann zwischen den rivalisierenden Schulgangs unterwegs ist als Verbündete und Freundin. Also das Thema Kindersolidarität, Freundschaft kennt da keine Grenzen zwischen dem Geschlecht, und das ist tatsächlich so Ende der 90er-Jahre im deutschen Kinderkino auch ein Stück modern gewesen, denn tatsächlich so Mitte der 90er musste man echt gute Mädchenfiguren im Kinderkino noch suchen.
"Beim Publikum kamen die Neufassungen sehr gut an"
Burg: Sie sagten auch, es gibt so Tugenden, die Erich Kästner immer wieder beschwört – Fairness, Freundschaft, Familie –, aber höre ich das recht aus Ihren Worten heraus, dass die Filme auch immer so ein bisschen ein Abbild ihrer Zeit waren, weil sie ja auch häufig in die jeweilige Zeit transportiert wurden?
Exner: Zumindest wurde der Versuch unternommen. Da würde ich auch mal kritisch sagen, es ist nicht an jeder Stelle optimal gelungen. Also wenn man dann versucht, eine Hip-Hop-Kultur abzubilden, dann werden Hip-Hopper sagen, wenn unsere Kultur im Kino angekommen ist, dann ist sie schon nicht mehr authentisch. Aber wo einem dann doch so ein Stoff wie "Emil und die Detektive" oder speziell auch "Das fliegende Klassenzimmer" wieder packt, das sind dann so Elemente, die sind bei Kästner gar nicht vorgekommen. Bei "Das fliegende Klassenzimmer" ist es zum Beispiel ein Stasi-Hintergrund. Also die beiden Freunde, die sich da als erwachsene Figuren wiederbegegnen, die sind durch einen Stasi-Vorfall getrennt worden, und das war ein zunächst verblüffendes Thema, aber es war auch ein ganz toller Zeitbezug, denn da lag tatsächlich noch etwas brach, was so im Kino trotz "Goodbye Lenin" oder anderer Filme, die sich mit der DDR-Geschichte auseinandergesetzt haben, noch gar nicht so stark behandelt wurde, zumindest nicht im Kinderfilm. Ich weiß nicht, wie Kästner das selber sehen würde, der hatte große Ansprüche an seine Drehbuchautoren, und "Emil und die Detektive" in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts ist dann von ihm in der ersten Drehbuchfassung auch entschieden abgelehnt worden, bis Billy Wilder ins Spiel kam und der dann behutsamer mit seinem Stoff umgegangen ist.
Also was Erich Kästner zu dieser Modernisierung sagen würde, das kann man sich jetzt wunderbar ausmalen. Auf jeden Fall ist es aber so, beim Publikum sind diese Modernisierungen und Neufassungen sehr gut angekommen. Also diese Filme haben ein sehr breites Publikum erreicht, und das war sicher auch die Lust der Eltern, die da noch mal neugierig waren. Dann Ende der 90er gab es auch eine neue Lust an diesen großen Kinos, die auf einmal überall entstanden waren, Multiplexe, Cinemaxxe, und die mussten ja auch bespielt werden, und haben diese wirklich gut gemachten Filme, die kamen da gerade recht. Die haben so die Lust der Familien am Kino aufgegriffen und gut bedient.
"Das Vertrauen in die Sparte Kinderfilm zurückgebracht"
Burg: Ja, denn Kinderfilme sind natürlich auch erfolgreich, wenn die Eltern gerne mit reingehen. Insofern der generationenübergreifende Aspekt ist da sicherlich nicht zu unterschätzen. Die waren ja auch sehr prominent besetzt mit Jürgen Vogel und Maria Schrader bei "Emil und die Detektive" oder Ulrich Noethen und Sebastian Koch beim "fliegenden Klassenzimmer". Sie sagten vorhin auch, dass die Mädchenrollen neu geschrieben wurden. Können Sie noch mal beschreiben, was diese Verfilmungen auch für den deutschen Kinderfilm bedeutet haben?
Exner: Ich glaube, sie haben das Vertrauen in die Sparte Kinderfilm zurückgebracht. Also man muss da einfach noch mal zurückspulen, so in die 70er-, 80er-Jahre, das war noch der lange Schatten des Fernsehknicks. Also es gab ja ein Kinosterben in den 60er-Jahren, und da ist auch der Kinderfilm zumindest in Westdeutschland völlig eigentlich in sich zusammengebrochen, und in den 90er-Jahren änderte sich eigentlich schon etwas. Da traten dann immer mehr Kinderfilmfestivals an, und die versuchten, so eine Kinderfilmkultur mit ausländischen Produktionen neu aufleben zu lassen. Aber von der Produzentenseite, der so einen Kinderfilm drehen wollte, der musste entweder echt viel Geld geerbt haben oder eine ganz große Risikobereitschaft haben, denn wirklich gutes zahlendes Publikum gab es so in der Form in den Kinos kaum noch für Kinderfilme, und dass man dann auch in einer Situation, wo der Anteil inländischer Filme im Kino überhaupt nicht so groß war, war das richtig antizyklisch, zu sagen, jetzt nehmen wir aber doch mal diesen Kästner-Stoff und vertrauen da drauf, dass es dafür ein Publikum gibt und machen das auch richtig gut in der Verfilmung.
Also in allen Gewerken in ihrer gestalterischen Hinsicht, speziell auch in der Besetzung solle das richtig gut werden. Das hat funktioniert, und das war wirklich so eine Art kleines Wunder, das einen großen Nachhall gehabt hat. Also auf einmal konnte man sagen, aha, es funktioniert also. Danach kam dann sicher nicht zufällig weitere Filme, zum Beispiel "Lauras Stern" oder "Lars der kleine Eisbär", die "Sams"-Reihe, später auch Cornelia-Funke-Verfilmungen, "Die wilden Hühner" wieder in der Produktion von Uschi Reich. Das waren so Produktionen, da war es dann schon mal möglich, eine Million Zuschauer im Kino zu erreichen, und das konnte ein Kinderfilm vorher kaum schaffen. Das war fast utopisch. Heute haben wir so eine Situation, wo man mit Fug und Recht sagen kann, der Kinderfilm hat als Sparte seinen Anteil daran, dass die inländische Filmproduktion wieder ein Stück stärker geworden ist.
Das kann man nicht laut genug sagen, weil tendenziell so die Strukturen des Kinderfilms immer noch nicht sehr stabil sind und auch ein bisschen defizitär in dem Sinne, dass es nicht nur um die Beteiligung von Frauen an der Produktion geht, sondern auch darum, wie gut sind die professionellen Leute in dieser Sparte finanziert. Also man verdient im Kinderfilm tendenziell weniger Geld als in der sonstigen Filmproduktion. Nichtsdestotrotz, man kann mit Fug und Recht sagen, heute der steht der Kinderfilm in Deutschland eigentlich ganz gut da, die Strukturen haben sich verbessert, und man kann auch darüber nachdenken, ob man nicht immer fast reflexartig zu Jugendbuchvorlagen greift und damit auch auf Marken setzt, sondern ob man vielleicht jetzt auch anfängt, ganz eigenständig und originär für das Kino zu erzählen.
Burg: Als nächster Schritt.
Exner: Ja.
Burg: Aber einen wichtigen Beitrag geleistet dazu, dass Kinderfilme überhaupt wieder populär werden und deutsche Produktionen, den hatten drei Kästner-Verfilmungen, die ab Donnerstag wieder im Kino zu sehen sind: "Pünktchen und Anton" aus dem Jahr 1999, "Emil und die Detektive" von 2001 und "Das fliegende Klassenzimmer" von 2003. Ich habe darüber gesprochen mit Christian Exner, Medienpädagoge und wissenschaftlich-pädagogischer Mitarbeiter am Deutschen Kinder- und Jugendfilmzentrum. Vielen Dank, Herr Exner!
Exner: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.