"Das Material spricht zu mir"
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Streng genommen ist Bettina Böhler das Gegenteil einer "Cutterin": Sie fügt das Bildmaterial erst zum eigentlichen Film zusammen. Für ihre Montagen ist die 59-Jährige schon vielfach ausgezeichnet worden. Jetzt legt sie ihre erste Regiearbeit vor.
Bettina Böhlers Arbeit findet im Verborgenen statt – und würde einem ungeübten Auge wohl nur dann auffallen, wenn sie schlecht gemacht ist: Die 59-Jährige ist eine der renommiertesten Filmeditorinnen der deutschen Kinolandschaft. In diesem Jahr ist sie mit gleich zwei Arbeiten auf der Berlinale vertreten: Mit ihrem Regiedebüt "Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien" und mit Christian Petzolds "Undine".
Totes Material zum Leben erwecken
Filmeditorin – dieser Begriff ist Bettina Böhler lieber als die noch eher geläufige Berufsbezeichnung "Cutterin". Schließlich ist es vor allem ihre Aufgabe, das Filmmaterial zu einer schlüssigen Geschichte zusammenzufügen.
"Natürlich wäre Monteur, Monteurin im Grunde das Adäquate", sagt sie, "weil wir montieren eben, wir setzen etwas zusammen. Wir zerteilen nicht nur. Aber da das eben in Deutschland sofort die Konnotation mit Heizungen hat, ist das schwierig."
Der Begriff "Filmeditorin" treffe besonders gut, "was wir eben auch tun: wir montieren, aber wir geben eben auch heraus, nämlich den Film dann in seiner endgültigen Form."
Denn das gedrehte Filmmaterial sei erst einmal "totes Material", dem im Schneideraum Leben eingehaucht werden müsse: "Erst durch diese Montage und die Verwebung dieses Materials zu der Geschichte, die der Film dann eben am Ende sein soll, entsteht ja das fertige Werk."
Die "Rohschnitt-Depression": Ein ganz normaler Zustand
Zur Bettina Böhlers Herangehensweise gehört, dass sie die erste Version des Films, den Rohschnitt, allein macht. Regisseurinnen und Regisseure wie Valeska Grisebach, Christian Petzold, Angelina Maccarone oder Angela Schanelec vertrauen ihr das Material schon an, während sie selbst noch in den Dreharbeiten stecken.
Die teils über Jahrzehnte gewachsene Zusammenarbeit führt dazu, dass bisher noch keiner von ihnen "irgendwie in Ohnmacht" gefallen sei bei der Sichtung der Rohfassung.
Was die gebürtige Freiburgerin und in Westberlin aufgewachsene Filmeditorin aber gut kennt, ist eine gewisse "Rohschnitt-Depression" seitens der Regie: "Weil man dann denkt: ‚Oh Gott, ja, ach so sieht es jetzt aus, aha, und jetzt kann ich nichts mehr ändern. Und jetzt kann man nur noch in der Montage das Beste rausholen.‘" Aus ihrer Erfahrung sei diese Form der Enttäuschung aber "ein ganz normaler Zustand": "Ein Künstler, der nicht zweifelt an seinem Werk, denke ich, da stimmt irgendetwas nicht."
"Ich habe einen Hang zur Manipulation"
Für Bettina Böhler geht es darum, sich empathisch auf die Geschichte, die schauspielerische Arbeit und das Material einzulassen, um zu erkennen, "in welcher Art und Weise es montiert werden sollte." Es klinge etwas esoterisch, aber sie sage immer: "Das Material spricht zu mir."
Denn anders als vielleicht angenommen, gibt es für Bettina Böhler nicht viele unterschiedliche Möglichkeiten, aus vielen Stunden Drehmaterial den richtigen Film zu montieren: "Klar, theoretisch kann man da 20 verschiedene Fassungen daraus machen. Aber die 19 anderen Fassungen sind dann eben nicht der Film, der es sein soll."
Böhlers Leidenschaft fürs Kino ist eine lange Liebesgeschichte. Schon mit 15 besuchte sie zum ersten Mal die Berlinale, noch vor dem Abitur stand für sie fest, dass sie zum Film wollte. Ein filmbegeisterter Kunstlehrer führte sie und ihre Klassenkameradinnen schon früh in die Feinheiten der Montagetechnik ein, die sie später zu ihrem Beruf machte.
"Gerade diese Montage hat mich von Anfang an fasziniert", sagt sie, "weil ich irgendwo natürlich auch einen Hang zur Manipulation habe. Das muss man schon haben."
Regiedebüt über einen Ausnahmekünstler
Sie selbst legt nun mit "Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien" ihre erste Regiearbeit vor, einen ausschließlich aus Archivmaterial montierten Dokumentarfilm über den Regisseur, Autor und Aktionskünstler Christoph Schlingensief.
Eine wahre Materialschlacht, denn Schlingensief drehte schon mit acht Jahren seinen ersten Film, seine Theaterarbeiten sind ebenso filmisch archiviert wie seine zahlreichen Kunstaktionen. Durch ihren Film mitzuentscheiden, wie Schlingensief in Erinnerung bleiben wird, sei "eine Riesenverantwortung" für sie gewesen, sagt Bettina Böhler.
"Im Grunde möchte ich heute, zehn Jahre nach seinem Tod, allen Generationen, aber auch besonders den jüngeren Menschen einfach mal vermitteln, was das für ein Künstler war - und wie er gearbeitet hat."
Sie hat ihren Fokus dabei auf Schlingensiefs Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, mit Nachkriegsdeutschland und dem Aufkommen neuer rechtsextremer Strömungen gelegt: "Das hat mich dann eben während der Arbeit an diesem Film auch immer wieder frappiert: Wie aktuell seine Werke heutzutage sind."
(era)