Filmemacher: Kohl-Ära wird verklärt

Andres Veiel im Gespräch mit Susanne Burg |
Kohl stehe "auf dem Denkmal der Einheit", sagt Andres Veiel, der den Altkanzler auch für seinen Dokumentarfilm "Black Box BRD" (2001) interviewt hat. Dabei sei er mit der Einführung des Privatfernsehens mitverantwortlich für eine Medienrepublik der Trivialisierung.
Susanne Burg: Andres Veiels Arbeitsweise erinnert mich immer ein bisschen an die eines Archäologen: Er gräbt und gräbt, tiefer und tiefer, immer sehr behutsam und präzise, und am Ende liegt etwas frei. Bei ihm ist häufig die deutsche Geschichte. Nicht einzelne Fakten, sondern ein Geist, der die Zeit regierte. Auch mit dem Geist der 80er-Jahre hat sich der Filmemacher beschäftigt in seinem Dokumentarfilm "Black Box BRD" aus dem Jahr 2001, in dem er die Biografien des Bankmanagers Alfred Herrhausen und des RAF-Terroristen Wolfgang Grams einander gegenüberstellt. Wie Andres Veiel damals auf die Ära Kohl geblickt hat und ob sich der Blick im Laufe der Jahre verändert hat, das will ich jetzt mit ihm besprechen. Guten Morgen, Herr Veiel!

Andres Veiel: Ja, guten Morgen!

Burg: Es ist genau 30 Jahre her, als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, als Helmut Schmidt nach dem Misstrauensvotum Helmut Kohl gratulierte. Sie waren damals 22 Jahre alt. Wie erinnern Sie sich an dieses Ereignis?

Veiel: Ich erinnere mich da noch sehr gut dran, weil da auch eine – ja, ich habe in der Zeit, '82, Helmut Kohl noch nicht wirklich ernst genommen. Ich dachte, das ist eine Pfälzer Erscheinung mit Saumagen und dieser merkwürdigen Art zu sprechen. Wir haben ja – Birne waren die Assoziationen, Kopf- und Körperform. Und erst lange später war mir klar, das ist jemand mit einem ausgeprägten Gespür für Macht, für Machterhalt, für das Durchsetzen von Interessen. Ich habe gedacht, es ist mit zwei, drei, vier Jahren – ist das Phänomen Kohl erledigt.

Burg: Sie studierten in den 80er-Jahren Psychologie in West-Berlin, machten dann eine Regie- und Dramaturgieausbildung am Künstlerhaus Bethanien. Wann wurde er denn für Sie, also wann haben Sie ihn denn wirklich wahrgenommen, und wurde er dann für Sie zum Feindbild? Wie für viele ja damals?

Veiel: Ja, es war tatsächlich in vielen kleinen Momenten, wo ich gemerkt habe, da ist eine Wende tatsächlich, also sein Innenminister hat, ich glaube, es war 83, einen Film indirekt verboten, "Das Gespenst" von Achternbusch, also wegen angeblicher Blasphemie. Das wäre vorher in der Form nicht denkbar gewesen, dass ein Innenminister direkt durchgreift. Helmut Kohl selbst, ich erinnere mich, wir haben demonstriert gegen die Pershings, gegen diesen NATO-Doppelbeschluss, also dass neue Mittelstreckenraketen in Deutschland stationiert werden sollten, also in der Bundesrepublik. Und Helmut Kohls Reaktion auf eine große Demonstration damals im Bonner Hofgarten war, ja: Die demonstrieren, wir regieren! Das heißt auch, eine stoische Ignoranz, er ist da seinen Kurs weitergefahren, und das waren durchaus Momente, wo ich gedacht habe, ja, was ist das für ein demokratisches Grundverständnis? Also, es schlich so in den Ritzen etwas ein, was ich damals sehr unangenehm fand und wo ich eben gemerkt habe, das ist ein Mann, mit dem muss man rechnen, der hat einen sehr harten und direkten Kurs, und in dieser ganzen Pfälzer Gemütlichkeit geht das scheinbar verloren und wird in dieser massigen Körperform sozusagen aufgeweicht, aber dem war nicht so.

Burg: Also, genau das ist ja – heute kümmern sich ja auch sehr viele um die Ästhetik, um die Sprache. Das scheint ja viel bei der Diskussion zu überdecken, aber Ihnen war damals schon bewusst, nein, nein, das ist nicht der einzige Kohl, über den wir hier reden, da ist schon auch ein sehr massiver, machtbewusster Mensch am Werke.

Veiel: Ja, ich habe ihn ja später dann auch persönlich kennengelernt. Er hat da zwei Seiten, das eine, und das nimmt auch erst mal für ihn dann ein, ist auch eine sehr emotionale Seite. Das heißt, hinter dieser Gemütlichkeit ist auch ein Gemütsmensch. Ich glaube, es war Wolfgang Schäuble, der hat mal gesagt, die richtige Waffe von Helmut Kohl sind seine Tränen. Das heißt, ich habe auch einen Helmut Kohl erlebt, der um seinen Freund Alfred Herrhausen geweint hat, aber gleichzeitig mit dem anderen Auge messerscharf beobachtet hat, genau gewusst hat, was er sagt. Er war einer meiner Gesprächspartner, die jenseits jeder Eitelkeit immer jedes Wort kontrolliert haben, die schon auf dem Radar gemerkt haben, wenn ich eine Frage stelle, die in eine Richtung geht, die ihm unangenehm ist, dann hat er mich schon fünf Kilometer vorher, wenn er nur eine Ahnung hatte, wohin es geht, bereits unterbrochen und gesagt, Sie verschwenden meine und Ihre Zeit. Das heißt, ich habe ihn, das muss ich ganz klar sagen, unterschätzt. Auch in diesem Punkt. Er war jemand, der eben in dieser Strategie nicht nur Macht erhalten hat, sondern Macht ausgebaut hat durch Gefälligkeiten. Ich meine, da gehören ja auch die Spendenaffären dazu – er war jemand, der sehr früh gemerkt hat, wohin die Reise geht, also ich habe mich damals sehr empört über Bitburg, also ein Besuch mit Ronald Reagan, dem amerikanischen Präsidenten auf einem Soldatenfriedhof, wo er für mich eine Gleichsetzung der Opfer betrieben hat, indem er nämlich – dort waren Kämpfer der Waffen-SS beerdigt und eben auch alliierte Soldaten, und mit diesem Besuch wollte er für mich ein Stück Geschichte revidieren. Tote sind tot, und wir sind heute auf einer Ebene, wo wir nur noch nach vorne blicken können. Und letztendlich hat er da schon etwas vorweggenommen, dass er nämlich sagen wollte: Wir haben Schlimmes angerichtet, aber wir müssen nach vorne blicken, und wir müssen nach Europa blicken! Und letztendlich darauf hat er ja die Einheit auch gebaut, und das muss man ihm trotz all dieser Kritik, dieser Mumpfigkeit, dieser Miefigkeit und dieser zum Teil auch grenzwertigen Ignoranz von Stimmen, die in sein Konzept nicht gepasst haben, also wo es dann die Frage war, welches Demokratieverständnis hat ein Helmut Kohl. Das sind wirklich zwei Seiten, die man da auch einfach gegeneinander stellen muss.

Burg: Vor 30 Jahren wurde Helmut Kohl Bundeskanzler, das ist unser Thema hier im Radiofeuilleton im Deutschlandradio Kultur, zu Gast ist der Filmemacher Andres Veiel. Herr Veiel, es wird ja – oder auch heute sagen ja viele, diese damals sogenannte geistig-moralische Wende 1982, als Kohl eben Bundeskanzler wurde, die habe in Wirklichkeit gar nicht stattgefunden. Es war vielmehr eine Politik der Kontinuitäten. Wie war Ihr Eindruck damals? Oder wie sehen Sie das heute?

Veiel: Also, ich glaube schon, dass es in diesen kulturellen Bereichen, da gab es natürlich Felder, wo ein Helmut Kohl nicht rankam, also, ich habe ja damals in West-Berlin gelebt, es gab noch die Hausbesetzungen, es gab die Punk-Bewegung, es gab da Parallelwelten, aber sozusagen in seinem Dunstkreis der Macht, wie er versucht hat, nicht nur Macht zu erhalten, sondern wie er in diese ganzen Entscheidungen bis in die Filmförderung hinein eben doch versucht hat, über die Fernsehstationen, er hat das Privatfernsehen ja mit initiiert. Es war seine späte Rache gegen die sogenannten Rotfunksender, und damit hat er natürlich maßgeblich Politik betrieben, nämlich in Form von einer damals beginnenden Trivialisierung, einer Verselbstständigung von Trash – das war ja alles nicht Zufall, das war ja durchaus strategisch durchdacht. Und ich glaube, dass es ein Fehler ist, diesen Einfluss zu unterschätzen. Der beschäftigt uns ja bis heute. Also er hat da maßgeblich Weichen gelegt für eine andere Medienrepublik.

Burg: In "Black Box BRD" verfolgen Sie ja zwei sehr unterschiedliche Biografien, die von Alfred Herrhausen, dem Vorstandssprecher der Deutschen Bank, der 1989 beim Attentat ums Leben kam, und die von Wolfgang Grams, erst RAF-Sympathisant, dann Mitglied und Freund der Terroristin Birgit Hogefeld. Man hat beim Film den Eindruck, dass es Ihnen nicht wichtig war, einzelne Ereignisse aus dem Leben zeitlich zu verankern, etwa in der Schmidt- oder in der Kohl-Zeit, abgesehen davon, wenn es konkret um die Freundschaft von Herrhausen und Kohl ging. Es scheint mehr, als seien sie interessiert gewesen daran, zu zeigen, wie polarisiert das Land damals war in den 80er-Jahren. Haben Sie auch 2001, als der Film herauskam, schon mehr diese Kontinuitäten gesehen?

Veiel: Ja. Ich glaube, dass 2001 natürlich ein anderer Blick dann auf diese Zeit war. Helmut Kohl war ja '89 jemand, warum hat der Alfred Herrhausen nach Ungarn geschickt? Er wollte ...

Burg: Was ja auch dieser Ton ist, also dieser Interviewausschnitt, den Sie dann letztendlich im Film benutzt haben.

Veiel: Genau. Es war eine ganz enge Verbindung, sozusagen fast symbolisch, eben zwischen Politik und Bank. Die Deutsche Bank hat maßgeblich Einfluss genommen, indem sie Ungarn Kredite gegeben hat, dass sie die Grenzen öffnen. Das heißt, auch da, man kann es natürlich auch positiv sehen, dass er mit diesen Krediten, Helmut Kohl, mit diesen Krediten der Deutschen Bank und anderer Banken wesentlich mit dafür gesorgt hat, dass diese Wende, also 89 jetzt, diese Wende tatsächlich realisiert werden konnte. Und auch das war ein Zeichen für einen Strategen, der wusste, es geht nicht ohne Geld, ich brauche die Deutsche Bank, und das jetzt Alfred Herrhausen sein Freund war, hat sich da bestimmt nicht negativ ausgewirkt, dass diese Politik in Gang kam. Gleichzeitig muss man eben sehen, auch da wieder die Ambivalenz. Also er war jemand, der sehr schnell die Chance ergriffen hat dann '89, der eben über politische Verhandlungen diese Einheit möglich gemacht hat, aber auch im Sinne des Machterhalts. Er wusste, 1990 sind dann Wahlen, er muss jetzt alles auf eine Karte setzen und hat politisch richtig gehandelt im Sinne des Machterhalts und im Sinne der Einheit. Ökonomisch, wenn man jetzt rückblickend von heute drauf guckt, war es natürlich erst mal ein Desaster, weil ja dann dadurch, dass die D-Mark eingeführt wurde, die Betriebe in Ostdeutschland waren ja nicht in der Lage, jetzt sofort jetzt die Gehälter in D-Mark zu zahlen, die ganzen Handelsverbindungen in die Sowjetunion – es war klar, dass – all das wird in – binnen einer Nacht wird das alles wegbrechen, Tausende Betriebe gehen in die Insolvenz, Tausende, Millionen von Folgekosten, die wieder über die Banken finanziert wurden, die Kredite mussten garantiert werden durch die Bundesregierung, die Banken haben den vollen Zinssatz genommen, das heißt, ein vorsätzliches auch Ausbluten, das hat damals niemand gesehen, ich auch nicht. Das sehe ich jetzt, wenn ich rückwirkend auf diese Zeit blicke, sind da auch gigantische Fehler gemacht worden. Natürlich alles im Sinne von einer schnellen Einheit und einer Wahl von Helmut Kohl. Und diese Rechnung ging ja auf. Also, er hat auch in diesem Punkt sehr genau verknüpft den eigenen Machterhalt mit etwas erstmal nach außen sehr Sinnvollem, nämlich einem schnellen Eintritt in diese Union, diese Währungs- und Staatenunion Bundesrepublik-DDR. Auf der anderen Seite glaube ich, jetzt, wenn ich von heute drauf gucke, sind da Milliarden durch den Kamin geschossen worden, wenn man das etwas differenzierter, genauer gemacht hätte mit kleineren Beträgen erstmal, die umgetauscht werden können, hätte man sehr viel Schaden ersparen können.

Burg: Zu den 30-Jahrfeiern scheinen sich viele mit Kohl versöhnt zu haben. Was meinen Sie: Wird die BRD der Kohl-Ära heute ein bisschen verklärt?

Veiel: Ich glaube, er steht einfach auf dem Denkmal der Einheit, und das sei ihm auch gegönnt. Ich glaube, dass nach und nach, wenn man da jetzt rückwirkend drauf guckt, eben die Ambivalenzen auch wieder sichtbarer werden. Also ich bin immer jemand, der sagt, ich bewundere ihn, wie er das durchgezogen hat, aber er hat da auch eine Menge Flurschaden hinterlassen. In den frühen Jahren genauso wie dann eben nach 1989, und das wird dann Aufgabe der Historiker sein, da ein differenzierteres Bild zu zeichnen.

Burg: Der Filmemacher Andres Veiel und sein Blick auf die Ära Kohl. Vielen Dank fürs Gespräch, Herr Veiel!

Veiel: Ja, gerne!

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