Ukrainische Regisseurin Marysia Nikitiuk

Plädoyer für den Kulturboykott

05:56 Minuten
Durch russische Angriffe zerstörte Wohnhäuser in Kiew
Zerstörte Wohnhäuser in Kiew: Wegen der Gefahr ist Marysia Nikitiuk aus der Hauptstadt nach Ivano-Frankiwsk in die West-Ukraine geflohen © picture alliance/dpa/CTK
Von Inga Lizengevic  · 04.04.2022
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Die Regisseurin Marysia Nikitiuk bleibt in ihrer Heimat, weil sie „das Martyrium ihres Landes nicht als Zuschauerin von außen betrachten“ möchte. Sie unterstützt den Boykott russischer Kunst: Diese sei auf Russlands imperialistischen Ideen aufgebaut.
Marysia Nikitiuk spricht mit mir, während sie durch die Straßen von Ivano-Frankiwsk läuft. Hier ist das Leben noch fast normal. Abgesehen von dem Luftalarm, der hin und wieder ertönt, und dem zerstörten Flughafen ist die westukrainische Stadt südlich von Lwiw bisher noch nicht vom Krieg betroffen.

Ich bin seit etwa einer Woche in Ivano-Frankiwsk. Vorher war ich auf dem Land, in der Region Riwne, auf halben Weg zwischen Kiew und Lwiw. Hier in Ivano-Frankiwsk habe ich eine Woche im Theater gewohnt, in einer Garderobe. Da habe ich auf einer Bank geschlafen. Das Theater hat seine Garderoben für geflüchtete Künstler eingerichtet.“

Nikitiuk hatte Kiew schon am zweiten Tag des Kriegs verlassen, mit schmalem Gepäck und ihrer Katze. Heute haben meine Katze und ich eine Wohnung gefunden, wo wir erst mal bleiben können. Endlich wieder eine Badewanne und Waschmaschine!“

Am Abend vor Kriegsbeginn hat Marysia Nikitiuk noch an Exposés für ihre neuen Filmprojekte gearbeitet, doch seitdem kam sie nicht mehr dazu.

Bedrohung durch Luftangriffe

Mein Problem ist, in Kiew wohne ich im achten Stock, dem obersten Stock des Gebäudes. Und ausgerechnet oben ist es am gefährlichsten. Da ständig die Sirenen heulen, muss man praktisch ständig im Schutzraum bleiben, quasi da wohnen. Hin und her rennen klappt nicht. Auch hier in Ivano-Frankiwsk gibt es zurzeit häufig Alarm. Aber in der Wohnung haben wir – meine Katze und ich – einen Platz mit zwei tragenden Wänden gefunden. Im Theater, wo ich noch vor zwei Tagen geschlafen habe, mussten wir dauernd in den Schutzbunker. Das war immer ein Krampf. Ich musste immer die Katze einfangen, die wollte nicht mit.“

Marysia Nikitiuks erster Spielfilm, das Familiendrama „When the Trees Fall“, war 2018 im Panorama der Berlinale zu sehen. Es folgten weitere Spielfilme.

Verharmlosung der Sowjetunion und Russlands

Was die Filmemacherin stört: Filme aus Russland und der Ukraine landen bei Festivals regelmäßig gemeinsam im gleichen Topf „osteuropäischer Länder". Marysia Nikitiuk will und kann das nicht mehr akzeptieren, angesichts des brutalen Angriffs auf ihre Heimat. Es stört sie auch, dass viele Europäer Russland aus ihrer Sicht verharmlosen.
Was ich nicht verstehe, ist die Romantisierung der Sowjetunion bei jungen Linken in Europa. Freunde, Ihr solltet die Geschichte studieren. Das war die Zeit der Repressionen und der Unterdrückung des Willens, sowohl des kollektiven, als auch des individuellen Willens. Das war schrecklich. Es gibt auch diese komische Romantisierung von Russland im Allgemeinen. Deswegen haben die europäischen Politiker, die deutschen eingeschlossen, erst sehr langsam angefangen zu verstehen, dass dieses Öl und Gas mit dem Blut der Ukrainer vermischt ist, mit menschlichem Blut."

Wie auch viele andere Kulturschaffende aus der Ukraine fordert Marysia Nikitiuk, dass neben der russischen Wirtschaft auch die russische Kultur mit Sanktionen belegt wird.

Russischer Kultur sollte blockiert werden

„Auf unsere Forderung, die russische Kultur zu boykottieren, wurde immer wieder geantwortet, Putin sei zwar böse, aber die Russen seien gut. Auch sie würden unter der Situation leiden. Das ist ein Irrtum. Russlands Kunst ist praktisch komplett auf diesen imperialistischen Ideen aufgebaut. Und für die Zeit des Krieges, solange in der Ukraine Blut fließt, kann es in der zivilisierten Welt keine russische Politik, Wirtschaft und Kultur geben. Für diesen Zeitraum muss das blockiert werden. Denn es sterben Menschen, sie werden umgebracht, vergewaltigt – und das ist schrecklich.“
Kulturschaffende wie Marysia Nikitiuk fordern, dass keine Filme, keine Theaterstücke, keine Konzerte und auch kein Ballett aus Russland auf europäischen Bühnen gezeigt werden soll, solange der Krieg in der Ukraine andauert.

"Russland ist ein kollektiver Putin"

„Es gibt eine kollektive Verantwortung, denn Russland ist ein kollektiver Putin. Hier nach der Schuld zu suchen, ist wie die Frage nach dem Ursprung von Ei und Huhn. Putin ist ein Produkt des Systems. Er ist nicht aus dem Nichts entstanden. Deswegen erstaunen mich solche Stimmungen in europäischen Kreisen. Man kann Russland nicht blockieren, ohne seine Ideologie zu blockieren. Ich habe russische Freunde. Manche haben das Land verlassen, andere sind geblieben. Sie sind schockiert. Sie schreiben, sie wollten es nicht kommen sehen.“

Andere russische Kollegen und Bekannte von Marysia lehnen den Krieg nicht so deutlich ab. Ihre russische Verwandtschaft hat sich seit Kriegsbeginn nicht mehr nach der Familie erkundigt. Sie meldet sich nicht mehr. 

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