Cannes muss sich erneuern
Viel Mittelmaß im Wettbewerb und eine überholte Trennung zwischen Arthouse und Kommerzkino – das Festival von Cannes braucht frischen Wind, meint Kirsten Martins. Aber immerhin habe die Jury den richtigen Film mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.
Unter der Präsidentschaft der rebellischen Coen-Brüder hat die Jury an der Croisette weise entschieden – hatte sie doch in diesem Jahr vielleicht mehr Preise als Filme zur Verfügung. Drei Mal wurden Franzosen ausgezeichnet, die hier als einzige einige der Probleme unserer Gegenwart thematisierten und mit fünf Spielfilmen im Wettbewerb überrepräsentiert waren.
Verdient erhielt jedoch der Pariser Jacques Audiard die Goldene Palme für seinen Spielfilm "Dheepan" über einen Tamilen, der nach Frankreich emigriert und in einen Drogenkrieg gerät: wortkarge, unsentimentale Szenen, spannend, atmosphärisch und nahe an den Figuren. Auch die Darstellerpreise gingen nach Frankreich: an Vincent Lindon, der in "La loi du marché" einen arbeitslosen Kranführer spielt, und an Emmanuelle Bercot, die sich den Preis teilt mit der Amerikanerin Rooney Mara für ihre Darstellung in Todd Haynes' "Carol".
Vor allem aber hat die diesjährige Jury eigenwilliges, junges Kino prämiert. Noch unbekannte Filmemacher, die etwas wagen, riskieren, fernab der Konvention der Genres – wie es die 86-jährige Französin Agnès Varda auch für den Film forderte in ihrer Dankesrede für die Ehren-Palme, die sie bekam. So gingen die hier in Cannes schon mehrfach ausgezeichneten Italiener Paolo Sorrentino, Nanni Moretti und Matteo Garrone leer aus. Der junge Ungar László Nemes erhielt für seinen Debütfilm "Son of Saul" zu Recht den Preis der Großen Jury. Er zeigt Bilder, wie sie im Kino noch nicht zu sehen waren, schildert den entsetzlichen Alltag eines Mannes im Sonderkommando in Auschwitz. Auch der Taiwanese Hou Hsiao-Hsien, dessen Film "The Assassin" mit dem Preis der Regie belohnt wurde, wagte mit 67 Jahren Neues, erzählte einen Martial-Arts-Abenteuerfilm in ruhigen, poetischen Szenen.
Auch "Mad Max" kann magisch und innovativ sein
Neues, mehr Glanz, hatte auch zu Anfang der frisch designierte Präsident des Festivals Pierre Lescure angekündigt. Glänzen konnte das 68. Festival allerdings nicht – weder mit den Filmen noch mit Erneuerungen. Lescure, ehemaliger Chef des französischen Fernsehskanals Canal+, vergrößerte nur die Präsenz der Sponsoren. Er holte den Modekonzern Kering des Milliardärs François-Henri Pinault an die Croisette; dieser unterstützte viele hier gezeigte Filme.
Die Jury unter den Coen-Brüdern setzte ein Zeichen: Das Festival an der Croisette braucht Erneuerung. Die diesjährige Filmauswahl präsentierte eine überholte Auffassung von Festivalkino. Noch immer wird hier − wie auf vielen anderen Filmfesten − streng zwischen Arthouse-Film und Kommerzkino getrennt. Doch der Film ist ungeheuer vielfältig, und ein Kino-Action-Abenteuer wie "Mad Max – Fury Road", das hier außerhalb der Konkurrenz lief, kann auf seine Weise ebenso außergewöhnlich, magisch und filmisch innovativ sein wie ein Film von Terrence Malick. Unverständlich, dass ein so beeindruckender Dokumentarfilm wie "Amy" ebenso wie der begeisternde Animationsfilm "Inside Out" von Pete Docter nicht im Wettbewerb liefen. Stattdessen war dort viel Mittelmäßiges zu sehen.
Das Festival an der Croisette braucht vitale Reformen, frischen Wind, um im internationalen Filmgeschäft wieder den Wert zu haben, den es einst besaß. Aber nach dem Festival ist vor dem Festival – wir sind gespannt auf 2016.