"Ein uneitles, lebendiges, inspiriertes Forum"
Bevor in zwei Wochen bei der Berlinale die Bären vergeben werden, gibt es beim Filmfestival in Rotterdam die Tiger Awards. Das wichtigste der sogenannten B-Festivals ist nicht gezwungen, nur Weltpremieren oder Internationale Premieren zu zeigen, und kann so aus dem Vollen schöpfen.
[Musik aus "Little Crushes"]
Die Band kommt aus Polen und nennt sich "Enchanted Hunters", also verzauberte Jäger. Sie haben einen kurzen Auftritt im Film "Male Stluczki/Little Crushes" und den wirklich bezaubernden Soundtrack beigesteuert für dieses sonnige, leichte Werk aus Polen, das in Rotterdam seine Weltpremiere feierte. Dort räumen zwei junge Frauen Kasia und Asia verlotterte Wohnungen aus. Sie verstauen Kristall, Porzellan und anderen Hausrat in Boxen und verkaufen, was sie können, auf dem Flohmarkt. Dabei lernen sie Piotr, einen jungen Mann kennen, der ihnen hilft und an Asia durchaus auch persönliches Interesse hat. Der englische Filmtitel suggeriert "Kleine Verliebtheiten", der polnische Titel übrigens "Kleine Zusammenstöße" oder "Kleine Scherben". Dabei kontrastiert die leere Industriestadt Lodz mit dem Lebensgefühl der etwas schrulligen, jungen Protagonisten. Drehbuchautor und Koregisseur Ireneusz Grzyb und die Regisseurin Aleksandra Gowin wollten mit ihren Film durchaus ein Lebensgefühl einfangen. Nur welches? Beide geben unterschiedliche Antworten.
Aleksandra Gowin: "Zumindest reflektiert es meine Eindrücke und Gefühle. Die jungen Menschen in diesem Alter wollen es sich vielleicht nicht eingestehen, dass ihr Leben etwas ziellos vor sich hin treibt. Aber es gibt da ein Problem, auch Opfer zu bringen."
Ireneusz Grzyb: "Ja, vielleicht muss man dann auch einmal Verantwortung tragen. Ich weiß aber nicht, ob das ein allgemeines Gefühl ist. Es ist jedoch meins."
Dieser frische, sympathische kleine Film gehörte zu einer ganzen Reihe von Filmen junger osteuropäischer Filmemacher, die Alltagsgeschichten junger Menschen erzählen. Im russischen Film "Jescho odin God / Another year" steht ein junges, verheiratetes Paar im Zentrum, das sich langsam auseinander lebt. Sie arbeitet in einem Büro zusammen mit hippen Designern und mag Partys. Er fährt schwarz Taxi, ist ein Muffel und will nie etwas unternehmen. Irgendwann lassen sie sich dann scheiden. Die Szene ist urkomisch, weil es die postsowjetische, russische Bürokratie Paaren ermöglicht, sich praktisch wie am Fließband in nur wenigen Minuten offiziell zu trennen. Der Film gewann in Rotterdam den "Big Screen Award" und soll einen holländischen Verleih mit 10.000 Euro Preisgeld dazu ermutigen, das Werk in den Niederlanden in die Kinos zu bringen.
Entspanntes Feiern neuer, noch unbekannter Filme
Es ist genau dieses entspannte Feiern eines neuen, noch unbekannten Kinos, das Rotterdam nun schon seit Jahrzehnten auszeichnet. Das genießen auch die deutschen Festivalgäste, so Maria Schrader, die Hauptdarstellerin des deutschen Wettbewerbsbeitrages "Vergiss mein ich" die zusammen mit ihrem Regisseur Jan Schomburg in Rotterdam weilte:
"Ich finde es ganz angenehm, dass so der großer Glamour nicht behauptet wird. Man hat das Gefühl, hier sind die Leute tatsächlich an den Filmen interessiert. Ich bin Leuten begegnet, die haben innerhalb von fünf Tagen 50 Filme gesehen. Es ist, glaube ich, ein sehr uneitles, lebendiges, inspiriertes Forum."
"Vergiss mein Ich" kam beim Publikum durchaus gut an. Maria Schrader spielt Lena, eine intellektuelle Erfolgsautorin, die plötzlich eine Gehirnentzündung erleidet. Das führt zu einer retrograden Amnesie. Sie weiß noch, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist, aber nicht mehr, wer sie, wer ihr Mann und wer ihre Freunde sind. Sie wird kindlicher, naiver, aber auch direkter und unkonventioneller. Für den Regisseur ging es dabei nicht nur um das Krankheitsbild, auch wenn er in einer Radioreportage von einem realen Fall hörte, der eine Frau betraf:
"Was mich sofort daran fasziniert hat, ist so etwas wie eine metaphorische Dimension von dieser Krankheit. Das Ich ist ja etwas Seltsames. Diese Person im realen Fall beschreibt auch wie sie ihre eigenen Tagebücher liest und denkt, was für eine seltsame Person und irgendwie ist ihr Ich ausradiert und dennoch denkt ja noch Irgendwas „ das war ne komische Person“. Irgendwie gibt es dann ein neues Ich, wie Descartes 'Ich denke also bin ich'. Es gibt ja auch, was den Neuanfang betrifft, so eine romantische Konnotation des Neuanfangs. Daran glaube ich aber nicht so richtig."
Der deutsche Beitrag ging leer aus, und war vielleicht trotz humorvoller Passagen etwas zu kopflastig. Das durchaus sehenswerte Werk kommt im Mai in die deutschen Kinos.
Übergangen wurden leider auch die vielen persönlichen, mitunter schrägen Werke aus Osteuropa vor allem aus dem Balkan, die allesamt von Frauen inszeniert wurden. Rotterdam gibt Rohdiamanten wie "Little Crushes" oder "Another Year" eine Bühne und wirkt im internationalen Festivalzirkus wie eine Frischzellenkur. Man setzt munter auf Neulinge und einige wenige Altmeister, zeigt Premieren oder spielt auch einfach nur gute Filme nach, die in den Niederlanden erst noch ins Kino kommen. So kann Rotterdam aus seinem offiziellen "B"-Status das Beste herausholen und agiert dabei oft lebendiger als die schwerfälligen "A"-Festivals in Cannes, Venedig und Berlin.