Filmredakteurin Susanne Burg sprach in "Studio 9" am Samstagfrüh über Wettbewerbsfilme beim Festival in Cannes 2017:
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Klemmender Vorhang und Familienaufstellungen
Ein vermeintlicher Sabotageversuch gegen Netflix, eine ungewöhnliche Freundschaft und immer wieder die Familie: Unter anderem um diese Themen ging es in den ersten Tagen bei den 70. Filmfestspielen im französischen Cannes. Der schönste Film ist dabei gar nicht im Wettbewerb zu sehen.
Auch im Mekka des Kinos kann es zu Verschleißerscheinungen kommen. Wenn etwa in der Pressevorstellung zum Film "Okja" des Südkoreaners Bong Joon-ho der Vorhang klemmt und der Film darauf hin falsch projiziert wird. Viele erkannten darin einen fiesen Sabotageversuch des Festivals, das sich gegen die Netflix-Politik stellt. Der Streamingdienst will seine Filme nicht offiziell im Kino auswerten, sondern direkt über seine Plattform.
Es ist das Aufregerthema in Cannes und doch noch weit von einem Skandal entfernt. Es kann doch auch Vorteile haben, sich mal die Frage zu stellen, ob man Filme im Kino sehen muss oder eben auch auf dem Rechner zu Hause.
Monsterfilm a la Astrid Lindgren
Im Fall von "Okja" ist die Antwort ganz klar. Der familienfreundliche Öko-Monsterthriller ist eine Hommage an die fantastischen Märchenfilme der 1970er-Jahre wie E.T. von Steven Spielberg. Reine, köstliche Kino-Unterhaltung. In einer nicht allzu weit entfernten Zukunft entwickelt ein Großkonzern genmanipulierte Schweine, die das weltweite Ernährungsproblem lösen sollen. Ein Wettbewerb wird ins Leben gerufen: der Bauer, der das schönste Tier züchtet, bekommt einen Preis. Auch ein koreanisches Mädchen macht mit und züchtet ihr geliebtes "Okja". Als es ihr weggenommen werden soll, tut sie alles, um das zu verhindern. Ein herzerwärmender Film über eine ungewöhnliche Freundschaft, der stellenweise eine Frische ausweist wie die besten Astrid Lindgren Geschichten.
Auch ansonsten erzählen die ersten Filme in Cannes von unterschiedlichen Familienaufstellungen. Der Amerikaner Todd Haynes verfilmt mit "Wonderstruck" einen Jugendroman über ein taubstummes Kind, das seinen Vater sucht und produziert reinen Kitsch, der zwar entfernt an den Zauber von Spielberg erinnert aber dann doch weit entfernt davon ist. Der Anti-Spielberg ist in gewisser Hinsicht der Russe Andrei Swjaginzew, der in "Loveless" von einem modernen, kalten Russland erzählt, in dem sich alle hassen. Warum sind wir so wie wir sind, fragt der Regisseur. Seine Antworten fallen mitunter zynisch aus. Schade, der Film bleibt letztlich unbefriedigend.
Ein Film wie ein Rilke-Gedicht
Der mit Abstand beste Film des Festivals ist aber bislang "Un beau soleil intérieur" der Französin Claire Denis. Hier stimmt einfach alles. Denis beobachtet eine 50 Jahre alte Künstlerin (brillant gespielt von Juliette Binoche), die den Traummann sucht. Es ist eine poetische Abfolge von Dates, die vieles über eine moderne Einsamkeit verraten, mit der erstaunlich viele Festivalbesucher etwas anfangen konnten. Ein Werk voller Heiterkeit aber auch Angst. Ein gegenwärtiger Film, der uns dennoch glücklich macht wie ein Rilke-Gedicht.