Ein würdiger Preisträger und eine Rede wie ein Donnerhall
Die 71. Filmfestspiele von Cannes sind zu Ende gegangen. Der japanische Regisseur Koreeda Hirokazu erhielt für "Shoplifters" die Goldene Palme. Wer noch mit Preisen bedacht wurde und ob es sich um einen guten "Jahrgang" gehandelt hat, erörtern unsere Kritiker Anke Leweke und Patrick Wellinski.
Unser Filmfachteam vor Ort, Anke Leweke und Patrick Wellinski, ist sehr zufrieden mit der Jury-Entscheidung, den japanischen Regisseur Koreeda Hirokazu mit der Goldenen Palme für seinen Film "Shoplifters" auszuzeichnen. Den Regisseur interessiere immer die Frage, was eine Familie ausmache, so Wellinski. Und in diesem Falle zeige er zum ersten Mal keine genetische Familie, sondern "einfach Menschen, die zusammen klauen gehen", so Wellinski.
Eine Bande von Dieben als Alternativ-Familie
"Die verstehen sich aber als Alternativ-Familie und schützen sich so gegen das Äußere, gegen die Gesellschaft, die sie verstoßen hat." Dabei lasse der Regisseur allen Figuren ihren Raum und ihren Platz. "Das ist wirklich erfüllend und auch sehr glücklich machend, auch wenn er vielleicht nicht so gut endet", meint Wellinski weiter.
Der Film sei auch radikal in seiner Filmsprache, ergänzt unsere Filmkritikerin Anke Leweke: "Er baut eine unheimlich schöne physische Nähe zu seinen Figuren auf. Man sitzt immer ganz dicht dran." Es sei sehr schön zu sehen, wie in den Bildern die Harmonie dieser Wahlfamilie dargestellt werde, die dann hinterher aber zerstört werde.
Film und Preis als politisches Statement
Auch der Große Preis der Jury für Spike Lees "Blackkklansman" sei verdient, meint Wellinski: "Das ist ein furchtloser Film, er ist wütend und clever und wichtig für unsere Zeit. Er will sagen, dass dieser ganze Rechtsruck in Amerika, aber auch in der ganzen Welt, nicht geht. Dieser Film ist ein Statement und so muss man auch diesen Preis verstehen."
Der Film sei manchmal etwas zäh, meint Anke Leweke, und sie würde sich wünschen, der Film hätte manchmal etwas von dem Groove, den seine Darsteller haben. "Natürlich gibt es bei der Palmenvergabe auch immer so etwas wie Symbolpolitik und natürlich wollte man Donald Trump wohl damit zeigen, was sich eigentlich tut in seinem Land." Der Preis sei zwar okay, aber das Kino bringe dieser Film nicht weiter.
Stille im Raum beim Auftritt von Asia Argento
Gleich am Anfang des Abends sei die italienische Schauspielerin Asia Argento auf die Bühne gekommen, sagt Patrick Wellinski. "Ihr Statement letztes Jahr hat ja die Weinstein-Debatte losgetreten. Sie hatte sich öffentlich geäußert, dass sie von Harvey Weinstein vergewaltigt worden ist." Sie sei ans Mikro getreten und habe wiederholt, dass Weinstein sie 1997, als sie 21 Jahre alt war, in Cannes vergewaltigt habe, und dass auch heute Abend im Saal Leute säßen, die noch zur Verantwortung gezogen werden müssten.
"Das war eine Rede wie ein Donnerhall", so Wellinski: "Es war eine ganz brutale Stille im Raum, niemand hatte damit gerechnet. Das war ein Statement, dass sich alle zu Herzen nehmen sollten."
Insgesamt, da sind sich beide Kritiker einig, habe die Jury unter Cate Blanchett den Jahrgang adäquat abgebildet, schade sei aber, dass der Kritikerliebling "Burning" von Lee Chang-dong leer ausgegangen sei.
"Man fährt ja auf Festivals um sich von den Bildern überraschen zu lassen, man sucht Bilder, die man noch nie gesehen hat, und als ich bei diesem Film im Kino saß, habe ich viele staunende Kolleginnen und Kollegen sitzen sehen.", sagt Leweke. "Das ist ein Meisterwerk. Schade, dass es keinen Preis bekommen hat.", bekräftigt Wellinski.
Jean-Luc Godard ist seiner Zeit mal wieder voraus
Zum ersten Mal ist in Cannes ein Spezialpreis vergeben worden: Jean-Luc Godard hat ihn erhalten für seinen Film "The Image Book". "Großvater Godard, der ist schon weiter. Der macht schon Kino für das Jahr 2055, 2065! Er denkt Bilder schon nicht mehr so wie wir, in Geschichten, sondern dekonstruiert Ton und Text.", meint Patrick Wellinski.
Und Anke Leweke sagt zum Abschluss: "Godard ist ein Theoretiker, er denkt das Kino immer theoretisch weiter, aber er kann das gleichzeitig auch wieder formal umsetzen." Da der Film relativ am Anfang des Festivals gelaufen sei, sei es möglich gewesen, mit den Gedanken und Ideen von Godard, wie man z. B. Gewalt und Krieg darstelle, die anderen Filme zu beurteilen. "Godard hat einen guten Blick und einen Sinn dafür, wann Bilder wahr sind."