Istanbul bei Nacht
Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk hat mit dem britischen Essayfilmer Grant Gee einen Film gedreht: "Die Unschuld der Erinnerung – Orhan Pamuk und sein Istanbul" heißt das Werk, das bei den Filmfestspielen in Venedig Premiere hatte.
Es ist Nacht. Die Kamera schwebt durch die diffus beleuchteten Straßen der Metropole. Sie gleitet in Querstraßen und Gassen und bleibt schließlich vor der Tür eines kleines Museums stehen. Aus dem Off spricht eine Frau zu uns:
"There is always a story to tell."
Und diese Geschichte hat Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk bereits in seinem Roman "Das Museum der Unschuld" erzählt. Es ist die verbotene Liebesgeschichte zwischen Füsun und Kemal im Istanbul der 1970er- und 80er-Jahre. In seinem "Museum der Unschuld" hat Pamuk dann die Objekte dieser Liebe gesammelt und ausgestellt. Einen Ohrring, eine Tasche oder 4213 Zigarettenstummel.
Im ersten Moment könnte man meinen, der britische Regisseur Grant Gee hätte einfach den Roman verfilmt. Aber Orhan Pamuk widerspricht. Dieser Film sei keine Literaturverfilmung, sondern eine Erweiterung und Vertiefung seines Projekts:
"Es ist eine Kombination aus drei Dingen. Erstens: Es ist die Nacherzählung des Romans durch eine Nebenfigur, die zwölf Jahre, nachdem sie das Land verlassen hat, sich ihrer Heimatstadt erneut nähern will. Zweitens ist es eine Dokumentation über den Bau und die Planung meines Museums der Unschuld. Und dann, drittens, ist es auch ein Blick auf meine Arbeit, meine Bücher und meine Liebe zu Istanbul."
Poetische Bilderfolgen inspirierten Pamuk
Die Nebenfigur, die uns durch diesen Film begleitet, heißt Ayla. Es ist Füsuns ehemalige Nachbarin, die sie vor vielen Jahren vor Kemal versteckt hat. Ihr Mann, ein Ingenieur, hat sich in der Gewerkschaft engagiert, bekam Ärger mit der Politik. Ayla ging mit ihm und ihren Kindern für zwölf Jahren ins Ausland. Jetzt ist zurück und versucht sich zu erinnern.
Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hat die ganze narrative Ebene des Films selber verfasst. Dabei hat sich der Schreibprozess für den Film von seiner üblichen Herangehensweise stark unterschieden, sagt Pamuk in Venedig:
"Manche Texte habe ich direkt aus meinen Istanbul-Büchern genommen. Aber es gab auch Momente, da kam Regisseur Gee zu mir mit Material, das er in der Nacht auf den Straßen Istanbuls gemacht hatte. Und ich sah dann diese poetischen Bilderfolgen und habe mich von ihnen inspirieren lassen. Dann habe ich darüber geschrieben, was ich gefühlt habe: über das Erinnern von Dingen, Orten, Straßen, Häusern. Es war diese Wechselwirkung, die mich an der Arbeit am Film besonders interessiert hat."
Der Rhythmus dieses traumwandlerischen Filmessays ist melancholisch. Regisseur Grant Gee, der bereits einen Filmessay über Winfried Georg Sebalds "Die Ringe des Saturn" gemacht hat, entscheidet sich hier − gemeinsam mit seinem Reisebegleiter Pamuk – den Film als eine Art Nachtspaziergang zu inszenieren. Dadurch entgeht er einer gewissen Monotonie, die sich in dem Flüsterton der Erzählung aus dem Off hin und wieder einschleichen will.
Taxifahrer und Müllsammler zeigen die Wunden der Stadt
Es ist zudem clever, den ganzen Film nur nachts spielen zu lassen: So kommen Taxifahrer und Müllsammler zu Wort. Sie sprechen darüber, dass die Metropole am Bosporus nur nachts ihre Wunden offenbart. Und dann bleibt die Kamera plötzlich am leeren Takzim-Platz stehen und die Bilder laden sich politisch auf. Doch dies sei kein politischer Film, sagt Regisseur Gee:
"Die Gezi-Proteste brachen genau zum Beginn der Dreharbeit aus. Und plötzlich fühlt man sich geradezu verpflichtet, einen journalistischen Impuls nachzugeben. Und wir haben lange mit Orhan darüber gesprochen, wie wir das machen. Das Problem ist ja, der journalistische Impuls wird durch die lange Produktionsdauer erstickt. Hätten wir dem Impuls nachgegeben, wäre das ein politischer Film geworden und ich wäre dann ein politischer Regisseur. Aber das bin ich nicht."
Und auch Pamuk, der nie durch seine Bücher, sondern immer durch seine Interviews politische Schwierigkeiten bekommen hat, kann dem politischen Aspekt des Films nicht aus dem Weg gehen. Selbst ein Spaziergang im nächtlichen Istanbul ist im Jahr 2015 fast schon ein politischer Akt.
Pamuk: "Dieses Stadt ändert sich so schnell, dass ich da nicht mehr hinterher komme. Jeder Abriss, jedes neue Hochhaus ist hier ein politisches Statement. Und das sieht man nur, wenn man durch die Straßen läuft. Mir hilft es dabei natürlich sehr, dass ich einen Bodyguard habe, der mich auf Schritt und Tritt begleitet."