Starke Frauen, verunsicherte Branche
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Die Filmfestspiele in Venedig trotzen mit Sicherheitsvorkehrungen der Corona-Pandemie. Auch die Frauen in den gezeigten Filmen zeigen sich selbstbewusst: Sie nehmen ihr Schicksal in die eigene Hand, beobachtet die Filmkritikerin Anke Leweke.
Seit dem Pandemieausbruch sind die 77. Filmfestspiele in Venedig das erste große Filmfestival, das stattfinden kann - wenn auch mit den entsprechenden Hygiene- und Abstandsregeln, ausschließlich online gekauften Tickets und Temperaturmessungen bei Kinogästen und Pressevertretern.
Filmkritikerin Anke Leweke sagt, sie sei zwar mit großer Vorfreude nach Venedig gefahren, aber auch mit dem Wissen, dass die Hollywood-Studios und viele europäische und asiatische Weltvertriebe ihre Filme zurückhielten. Festivals seien zwar für die Vermarktung wichtig, die Branche sei aber weiter verunsichert, weil man nicht wisse, wann man die Filme in die Kinos bringen könne.
Beeindruckende Performance von Vanessa Kirby
"Die Auswahl ist aber sehr interessant kuratiert, wie die Filme korrespondieren, wie Geschichten im nächsten Film weitergehen oder sich spiegeln. Und es gibt auch schon einen roten Faden: Die Männerbilder sind eher erstarrt, die Männer agieren verhalten und passiv und es sind die Frauen, die ihr Schicksal in die Hand nehmen, deren Leben in Bewegung gerät und die dadurch auch das Publikum bewegen."
Ein Beispiel dafür sei der Film "Pieces of a Woman" von Regisseur Kornél Mundruczó. Darin werde die Geschichte einer Frau erzählt, die bei einer Hausgeburt ihr Kind verloren habe und nun versuche ihren Weg zu finden, mit diesem Schmerz umzugehen. Von ihrer Umgebung erfahre sie keine Unterstützung, sondern bekomme das Gefühl vermittelt, versagt zu haben.
"Man bekommt unheimlich Respekt vor dieser Frau, die ihren Schmerz nicht in vorgefertigte Raster packt, die sich ihren eigenen Raum sucht. Das wird von Vanessa Kirby sehr eindrücklich gespielt", erklärt Leweke. Die Figur entwickle eine "unglaubliche Power", weil sie sich Zeit und Raum für ihre Trauer nehme und dadurch einen Weg in ihr neues Leben finde.
Passionsgeschichte von Milo Rau
In einer Nebensektion des Festivals läuft das Filmessay "Das Neue Evangelium" des Theater- und Filmregisseurs Milo Rau. "Das ist ein sehr kluger, konstruierter und hybrider Film. Eine realistische Passionsgeschichte und zugleich eine politische Dokumentation und eine Hommage an Pier Paolo Pasolinis Film 'Das 1. Evangelium - Matthäus'."
Milo Rau wolle Jesus menschlicher zeichnen und ihn in einer sozialen Realität verankern, sagt Leweke. Ebenso wie bei Pasolini sei die süditalienische Stadt Matera Schauplatz und auch Rau arbeite nicht mit professionellen Darstellern.
"Sein Jesus ist ein schwarzer Migrant, der unter menschenunwürdigen Bedingungen lange auf einer Tomatenplantage gearbeitet hat, die der Mafia gehört. Jetzt setzt er sich für die Arbeiter ein." Man spüre, dass das ein Gemeinschaftsprojekt sei, denn es werde immer wieder über den Film diskutiert.
"Milo Rau lässt sich bei der Arbeit zusehen, bei dem Entstehungsprozess. Es ist ein Film, der auf vielen Ebenen funktioniert. Man könnte auch von einem offenen Kunstwerk sprechen."
(rja)