Filmgeschichte

Unspektakulär, aber faszinierend

Ellar Coltrane in einer Szene aus dem Film "Boyhood".
Ellar Coltrane in einer Szene aus dem Film "Boyhood". © picture alliance / dpa
Moderation: Britta Bürger |
Richard Linklaters "Boyhood" ist ein filmisches Wagnis. Zwölf Jahre hat er einen Jungen beim Aufwachsen begleitet. Der Filmwissenschaftler Andreas Kötzing staunt, dass trotz all der Alltagsbilder keine Langeweile aufkommt.
Britta Bürger: "Boyhood" – die Langzeitbeobachtung des amerikanischen Regisseurs Richard Linklater. Am Donnerstag kommt der Film in die deutschen Kinos. Ist Linklater damit nun tatsächlich der Pionier einer neuen Form? Darüber möchte ich jetzt mit dem Filmwissenschaftler Andreas Kötzing sprechen. Herr Kötzing, wie innovativ ist das Konzept von "Boyhood"?
Andreas Kötzing: Man muss, glaube ich, unterscheiden zwischen dem Spiel- und dem Dokumentarfilm in dem Fall, und für den Spielfilm ist das, was Richard Linklater mit "Boyhood" gemacht hat, schon sehr innovativ und ziemlich außergewöhnlich. Also so ein Drehprozess über einen Zeitraum von zwölf Jahren, immer wieder im Abstand von einem Jahr sich mit dem gleichen Paar von Schauspielern, mit der gleichen Gruppe zu treffen, um so einen Spielfilm zu realisieren, das hat vor ihm in dieser Form noch niemand gemacht. Und gerade im Hinblick auf so eine Jugend, die er dokumentieren wollte, also den Alterungsprozess eines jungen Menschen, der er mit sieben anfängt zu begleiten bis hin zu seinem College-Beginn in den USA, also ein Einblick in diese Adoleszenz, irgendein ganz normales Leben im mittleren Westen der USA, in Texas, glaube ich, angesiedelt, die Geschichte, so verdichtet ein Leben auf den Punkt zu bringen in einem Spielfilm, das gab es so in dieser Form vorher noch nicht, zumindest nicht so verdichtet.
Eine mutige und unsichere Vorgehensweise
Bürger: Ähnliches gab es vielleicht schon, im Spielfilmbereich zum Beispiel. Edgar Reitz fiel mir ein, die "Heimat"-Tetralogie, aber natürlich, in der Tat, das war nicht ein Film, nicht?
Kötzing: Richtig. Das ist dann über mehrere Filme fortgesetzt worden, und in der Tat, Sie haben recht, es gab natürlich immer wieder solche Ansätze, wenn man in die Filmgeschichte zurückschaut. Bei Francois Truffaut der Zyklus über Antoine Doinel mit Jean-Pierre Léaud in der Hauptrolle, damals angefangen mit "Sie küssten und sie schlugen ihn" – er hat das ja auch gemacht, über mehrere Filme immer wieder mit der gleichen Hauptfigur zu drehen und uns sein Leben zu schildern im Abstand von mehreren Jahren. Klassischerweise, wenn es um solche Porträtfilme geht, machen das ja Filmemacher normalerweise immer, dass sie unterschiedliche Schauspieler besetzen, um uns den Alterungsprozess zu schildern. Dann haben wir einen Schauspieler, der das Kind im Alter von sieben spielt, ein Schauspieler im Alter von zwölf und dann vielleicht noch mal einen anderen Schauspieler im Alter von 18 Jahren. Und das hat Linklater eben versucht zu vermeiden, indem er sich wirklich auf diesen langen Drehprozess eingelassen hat, ohne dass er natürlich wissen konnte, was am Ende tatsächlich dabei herauskommen würde, ob die bei dem Projekt bleiben, ob er das tatsächlich bis zum Ende wird durchziehen können.
Die Schauspieler Patricia Arquette (l), Lorelei Linklater (2.v.r.), Ellar Coltrane (2.v.l.) und US-Regisseur Richard Linklater bei der Premiere von "Boyhood" auf der Berlinale.
Die Schauspieler Patricia Arquette (l), Lorelei Linklater (2.v.r.), Ellar Coltrane (2.v.l.) und US-Regisseur Richard Linklater bei der Premiere von "Boyhood" auf der Berlinale.© picture alliance / dpa
Bürger: War natürlich ein großes Wagnis, sich damals für einen Kinderschauspieler zu entscheiden und dann davon auszugehen, dass der auch jahrelang bei der Stange bleibt und tatsächlich auch schauspielerisch geeignet ist.
Kötzing: Richtig. Aber das ist natürlich ein Risiko, das man einfach eingehen muss, wenn man sich auf so eine Langzeitdokumentation oder eine Langzeitbeobachtung einlässt. Man hat immer dieses Risiko, dass man nicht genau wissen wird, wo führt es uns am Ende hin, zumal sie ja auch mit einem relativ offenen Drehbuchkonzept gearbeitet haben und sich keine klassische Dramaturgie zurechtgelegt haben über den langen Zeitraum. Wenn wir über diese Innovation sprechen, ich habe das am Anfang schon gesagt, dann ist es aber zum Beispiel für den Bereich des Dokumentarfilms gar nicht so wirklich innovativ. Also, da gab es diese Ansätze zu Langzeitbeobachtungen schon in den 60er-Jahren, da hat man das erstmals probiert, solche Projekte zu initiieren, die sich mit einem bestimmten Protagonisten oder einer Gruppe von Protagonisten über einen längeren Zeitraum beschäftigen. Und interessanterweise ist da eben gerade die DEFA, also das ostdeutsche Spielfilm-, Dokumentarfilmstudio federführend und besonders innovativ gewesen.
Langzeitbeobachtungen vor allem in der DDR
Bürger: Da fallen einem "Die Kinder von Golzow" ein, von dem Ehepaar Junge, aber auch "Wittstock" von Volker Koepp. Was waren die Grundideen dieser Langzeitbeobachtungen?
Kötzing: Der berühmte Zyklus über die Kinder von Golzow hatte ja seinen Ursprung tatsächlich darin, zu schauen, wie entwickelt sich so eine junge Generation von Menschen in der DDR, die Mitte der 50er-Jahre geboren wurden, nach dem Mauerbau eingeschult worden sind, und der Gedanke war, sie über einen längeren Zeitraum zu begleiten, ursprünglich mal so eigentlich bis zum Ende der Schulzeit gedacht, aber dann hat man das eben weiter ausgedehnt, hat sie weiter beobachtet. Barbara und Winfried Junge sind immer wieder zurückgekommen nach Golzow, haben weitere Filme gedreht, 1981 dann auch den ersten längeren Film mit "Lebensläufe", einem Projekt, das über vier Stunden Zeit in Anspruch genommen hat im Kino, und dann natürlich vor allem auch das Ausdehnen über die Zeit von 1989/1990 hinaus, was den ganz besonderen Reiz dieser Langzeitbeobachtung ausmacht, weil man da eben diesen großen Bruch in Deutschland drin fassen kann, das Verändern der Lebensläufe und der Projekte, die damit mal verbunden gewesen sind mit dem Leben dieser Menschen. Was passiert mit ihnen nach 1989/90?
Das war eine ganz große Chance, und deswegen muss man sagen, dass dieses Projekt dann weitergeführt wurde bis 2007, bis es dann endgültig eingestellt wurde, das ist wirklich eine absolute Ausnahme und etwas ganz Großartiges in der Filmgeschichte, und wenn man sich das dann anschaut, 46 Jahre hat das gedauert, da wird dann selbst Richard Linklater ein bisschen klein dagegen.
Ausstellung über die Langzeitbeobachtung "Kinder von Golzow" im brandenburgischen Golzow im Oderbruch (Landkreis Märkisch-Oderland)
Ausstellung über die Langzeitbeobachtung "Kinder von Golzow" im brandenburgischen Golzow im Oderbruch (Landkreis Märkisch-Oderland)© picture alliance / dpa
Bürger: Warum konnte sich denn diese Stilrichtung ausgerechnet bei der DEFA so intensiv etablieren?
Kötzing: Es hat, glaube ich, ein bisschen etwas mit dem Selbstverständnis des Dokumentarfilms bei der DEFA zu tun. Wir sprechen ja heute tatsächlich auch vom Stil der Babelsberger Schule im Bereich des Dokumentarfilms, es ist also eine besonders einfühlende Beobachtung der Protagonisten, sehr viel Empathie mit den Menschen, mit ihrem Lebensalltag, vor allem auch eine starke Konzentration auf ihre Arbeitswelt. Das war natürlich zum Teil politisch gewollt damals zu DDR-Zeiten, solche Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, ihr Leben zu schildern, aber die Filmemacher haben diese Gunst eben auch genutzt, um daraus wirklich sehr intensive Porträts zu machen, uns das Leben der Menschen nahezubringen.
Sie hatten "Wittstock" erwähnt, den Zyklus von Volker Koepp über die Näherinnen dort in dem Werk, die er über einen längeren Zeitraum begleitet hat, auch über die Zeit nach 1989/90 hinaus. Wenn man sich diese Filme heute anschaut, da steckt ganz viel Empathie für die Menschen drin, man bekommt ein Gefühl für das Leben, wie es ursprünglich mal dort gewesen ist und wie es sich dann eben auch nach 1989/90 weiter verändert hat.
Die Hauptdarsteller aus "Boyhood" bei der Premiere in Berlin.
Die Hauptdarsteller aus "Boyhood" bei der Premiere in Berlin. Zwölf Jahre nahmen sie an den Dreharbeiten teil.© picture alliance / dpa
Bürger: In all diesen Langzeitbeobachtungen erleben wir ja das Vergehen der Zeit, den Prozess des Lebens, die Wirklichkeit, selbst wenn sie Fiktion ist, wie bei Linklater. Die Zeit selbst ist hier im Grunde eigentlich die wirkliche Hauptfigur. Ist das tatsächlich etwas typisch Filmisches oder ist das nicht eher eine Form, die an den Roman erinnert?
Kötzing: Teils, teils. Im Roman haben wir das natürlich genauso, aber wenn man sich die ursprüngliche Idee oder die ursprünglichen Gedanken, die hinter dem Medium Film oder natürlich auch der Fotografie im Speziellen anschaut, dann ging es ja auch immer darum, das Vergehen von Zeit zu dokumentieren oder einen Moment festzuhalten, der schon in dem Moment vergangen ist, in dem man die Kamera ausschaltet oder das Foto gemacht worden ist. Und die Langzeitbeobachtung ist insofern natürlich noch mal eine ganz besondere Verdichtung von Zeit. Es ist ja wie ein Rücktreten ein bisschen vor der einzelnen Aufnahme, wenn man es dann in der Gesamtschau sieht, ergibt sich ja erst das große Ganze. Da steckt so ein bisschen auch das Gefühl drin, man schaut dem Leben bei der Arbeit zu über so einen langen Zeitraum.
Wir sehen ja den Alterungsprozess bei Richard Linklater in dem Film wirklich so berührend und so schön in Szene gesetzt, eben gerade, weil das nicht durch Schminke gemacht wird oder durch einen anderen Schauspieler in Szene gesetzt wird, sondern durch den gleichen Charakter, durch den gleichen Schauspieler, Ellar Coltrane, in dem Film. Und dann wird es eben auch viel näher, dadurch, dass man das Gefühl hat, wir sehen den Menschen wirklich, wie er altert, und ja nicht nur ihn, auch die anderen Schauspieler, die an dem Projekt beteiligt gewesen sind. Auf einmal ist auch Ethan Hawke wieder jung bei den ersten Drehaufnahmen, die man dort sehen konnte.
"Er ist eigentlich überhaupt nicht langweilig"
Bürger: Ist das auch das Geheimnis, dass uns dieser Film nicht langweilig wird?
Kötzing: Er ist eigentlich überhaupt nicht langweilig. Das ist das Großartige an diesem Film. Obwohl er zugleich nichts Spektakuläres zu erzählen hat. Das Besondere und das Fantastische an ihm ist ja gerade seine Beiläufigkeit, finde ich. Er erzählt diese Geschichte der Jugend mit so einem ganz unaufgeregten Tonfall. Es sind die ganz kleinen Geschichten des Alltags, die diesen Film so ganz besonders machen. Gespräche im Auto zwischen dem Vater und dem Sohn und der etwas älteren Tochter, die sich darüber unterhalten, warum man eigentlich nicht mehr miteinander ins Gespräch kommt.
Das ist ja so eine Art Patchwork-Familie, die da dargestellt wird, es sind so ganz viele kleine Puzzle-Episoden, die der Film aneinanderreiht, viele Konflikte natürlich kleinerer Art innerhalb der Familie, die auch nicht immer ganz frei sind von Klischees, wenn ich da an die Scheidung denke und auch Teller, die an die Wand geworfen werden, das kennen wir natürlich auch aus anderen Hollywood-Filmen, aber das ist alles sehr reduziert bei Richard Linklater. Er verlässt sich da ganz auf diese Grundkonstellation, und das ist wirklich das, was den Film in meinen Augen wirklich ganz außergewöhnlich macht. Wir beobachten hier tatsächlich nur das Leben dieses Jungen im Zentrum, und wir legen auf Dramaturgisierung, auf bestimmte Effekte gar keinen großartigen Wert, und das macht den Film außergewöhnlich und, wie ich finde, besonders faszinierend.
Bürger: Der Filmwissenschaftler Andreas Kötzing über die Kunst der Langzeitbeobachtung im Kino. Ab Donnerstag ist sie zu erleben im neuen Film von Richard Linklater, "Boyhood". Danke Ihnen, Herr Kötzing, für das Gespräch!
Kötzing: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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