"Geschichte hat mich immer interessiert"
Das Filmhaus Nürnberg zeigt bis Anfang März eine Werkschau des Regisseurs Edgar Reitz. Der Filmemacher wurde einst mit seinem Serienepos "Heimat" berühmt und freut sich, dass Serienmacher aus aller Welt sich heute an seiner frühen Chronik und deren filmischer Erzählweise orientieren.
In den 1980er Jahren wurde der Filmregisseur Edgar Reitz mit seiner Serie "Heimat" auf einen Schlag bekannt, aber er hatte schon zuvor den Jungen Deutschen Film geprägt. Schon 1967 hatte Reitz für sein Erstlingswerk "Mahlzeiten" beim Filmfestival in Venedig den silbernen Löwen erhalten. Das Filmhaus Nürnberg zeigt nun eine Werkschau dieses bedeutenden Filmemachers. Dabei wird sein größter Erfolg, die mehrteilige filmische Chronik "Heimat" gezeigt, aber auch seine frühen Filme.
Abstand zum eigenen Film
Er habe eigentlich immer vermieden, seine Filme nochmal anzusehen, sagte Reitz im Deutschlandfunk Kultur. "Ich habe immer zu meinen Filmen, wenn sie fertig waren, versucht, Distanz zu halten", sagte der Regisseur. "Denn man hört ja nicht auf, daran zu arbeiten im Kopf. Da das dann aber nicht mehr möglich ist, entsteht da so eine Qual." Er sitze im Kino und denke, warum er das so und nicht anders gemacht habe. Mit mehreren Jahren Abstand gehe das inzwischen besser. "Ich war dann doch erstaunt darüber, dass manche Filme, von denen ich das nicht erwartet hatte, noch richtig gut funktionieren, also dass man auf der richtigen Pobacke sitzt, wenn man das anschaut."
Das Interview im Wortlaut:
Susanne Burg: Im Laufe der nächsten zwei Monate haben Sie die Gelegenheit, 60 Jahren Filmgeschichte und gleichzeitig einer Chronik des 20. Jahrhunderts beizuwohnen. Das Filmhaus Nürnberg veranstaltet nämlich bis Anfang März eine große Edgar-Reitz-Werkschau. Zu einer solchen Werkschau gehört natürlich auch das große Epos von Edgar Reitz, die "Heimatchroniken", aber es werden auch andere Dokumentar- und Spielfilme zu sehen sein. Und über dieses große Werk spreche ich jetzt mit dem Regisseur höchst selbst, der für uns in ein Studio in München gegangen ist. Guten Tag, Edgar Reitz!
Edgar Reitz: Ja, guten Tag, Frau Burg!
Burg: Herr Reitz, Sie haben die Werkschau mit kuratiert – wie war es für Sie, Ihre Filme noch einmal zu sehen? Fühlt es sich noch wie etwas von Ihnen an oder ein bisschen fremd?
Reitz: Also das ist eine interessante Frage, weil ich habe immer zu meinen Filmen, wenn sie fertig waren, versucht, Distanz zu halten, denn man hört ja nicht auf, daran zu arbeiten im Kopf. Da das dann aber nicht mehr möglich ist, entsteht da so eine Qual. Ich sitze im Kino und denke, warum habe ich das so gemacht, das kann ich anders und das kann ich besser.
Und um dieses Gefühl nicht mit mir herumzutragen, habe ich das immer gemieden, die Filme zu sehen. Jetzt, nach so vielen Jahren, schaut sich vieles so an, als hätte ich das nicht gemacht, sondern irgendjemand anders. Ich sitze ganz gelassen da und denke, na, gut gemacht, ganz nett, so kann's gehen und so weiter. Ich war dann doch erstaunt darüber, dass manche Filme, von denen ich das nicht erwartet hatte, noch richtig gut funktionieren, also dass man auf der richtigen Pobacke sitzt, wenn man das anschaut.
Komödie über die Nazizeit war ein Tabu
Burg: Bei welchem Film ging Ihnen das zum Beispiel so?
Reitz: Also, so finde ich zum Beispiel "Die Reise nach Wien" einen Film, der vollkommen neu gesehen werden kann. Das ist die einzige Komödie, die über die Nazizeit gemacht worden ist. Es war ja ein Tabu, dass man sagte, nein, über Krieg und Nazis darf man keine Komödie machen, und das haben wir damals gewagt und haben es gewagt zu lachen über die ganze Motivation dieser Leute, der kleinen Bürgerinnen, der hübschen Mädchen, wie sie da träumen von diesen uniformierten Knaben, die da sich als Helden fühlen. Also das hat mir sehr gut gefallen.
Burg: Im Film aus dem Jahre 1973, da hatten Sie ja auch zu dem Zeitpunkt schon mehrere Filme gemacht. Bei der Werkschau ist auch Ihr erster Kurzfilm dabei, "Gesicht einer Residenz", der stammt aus dem Jahr 1954, ein Dokumentarfilm über die Münchner Residenz, also die Ruinen des Stadtschlosses und der Residenz der bayrischen Herzoge, Kurfürsten und Könige. Erkennen Sie da aus heutiger Perspektive und mit diesem Abstand auch schon die Handschrift von Edgar Reitz wieder?
Reitz: Schwer zu sagen, weil was uns damals fasziniert hat – und ich hab diesen Film ja auch nicht alleine gemacht –, da gab's einen Freundeskreis, und es gab ja noch keine Filmschule, man wusste nicht, wenn man Filmemacher werden wollte, wo man lernen soll. Also wir haben das sozusagen durch Machen versucht zu lernen, und ich kann das heute bei so ganz frühen Filmen nicht mehr feststellen, wo die eigene Handschrift ist.
Interesse an Geschichte
Burg: So was, was sich dann aber durch die Filme zieht von diesem Zeitpunkt auch, ist schon so das Interesse an historischer Auseinandersetzung, also was auch schon vor dem ersten Heimatzyklus auftaucht. Sie haben schon "Die Reise nach Wien" erwähnt, aber da wäre ja auch die "Stunde Null" von 1977 – sehen Sie das so auch als einen durchgängigen Faden bei Ihnen?
Reitz: Durchaus. Also Geschichte hat mich immer interessiert, und zwar nicht aus akademischen Gründen, sondern weil zum Leben eines Menschen gehört auch seine eigene Geschichte, die Geschichte der eigenen Erfahrungen, der Prägungen. Und dann das zu erzählen, hat mich immer sehr, sehr interessiert. Es ist natürlich mehr ein Thema für Spielfilme und lange Filme als für den Kurzfilm. Bei Kurzfilmen geht es mehr um die Bilder an sich, und die Bilder meiner frühen Jahre waren die Reste des Krieges.
Also Sie müssen sich vorstellen, während unseres Studiums musste man noch da ein Praktikum absolvieren mit Trümmeraufräumen. Die Universität war noch größtenteils in Ruinen, und man musste in den Semesterferien helfen beim Wiederaufbau der Uni-Gebäude, also solche Bilder, die man heute Gott sei Dank nicht mehr zu sehen bekommt oder zumindest nicht in unseren Ländern. Es gibt Krieg ja immer noch, und auch die Kriegsbilder ähneln sich, das ist ganz erstaunlich und bedrückend.
Burg: Das, was jetzt vielleicht auch ein bisschen dazu passt, Sie waren 1962 ja auch einer der Unterzeichner des Oberhausener Manifests, das Papas Kino eben für tot erklärte und deren Unterzeichner eben einen neuen deutschen Spielfilm schaffen wollte. Es war also die Ansage, man will etwas anders machen, sagen wir mal radikal anders machen, aber mit etwas Abstand kann man ja sagen, man stellt fest, man bezog sich dann doch auf das, was man kannte, auf Vorgänger.
Wenn man jetzt in den 50er-Jahren, wenn der Heimatfilm blühte, dann kann man beobachten, dass dann die Regisseure wie Volker Schlöndorff oder Volker Vogler oder Reinhard Hauff sich schon auch daran abarbeiteten und in den 60ern und frühen 70ern den Antiheimatfilm oder den sozialkritischen Heimatfilm schufen. Nun kam Ihr Heimatzyklus Anfang der 80er-Jahre zu einer Zeit ins Fernsehen, als der Heimatfilm eigentlich schon aus dem Kino verschwunden war, höchstens dann noch im Fernsehen zu sehen war mit Serien wie "Die Schwarzwaldklinik" oder "Der Landarzt". Inwieweit, würden Sie sagen, aus heutiger Sicht, haben Sie sich noch an Vorgängern abgearbeitet?
Reitz: Das Genre des deutschen Heimatfilms, das ist etwas, was ich immer zutiefst verachtet habe, weil es wirklich so was von verlogen und kitschig daherkommt und die Welt als eine Folge von Idyllen und die Heimat als etwas, als einen festen Besitz meist in Gebirgsnähe und so weiter beschreibt, das habe ich immer verachtet. Und "Heimat", mein großes Epos, ist so gesehen kein Heimatfilm. Es hat den Titel, aber ist deswegen nicht dieser Gattung zuzurechnen.
Keine Sozialkritik
Burg: Würden Sie denn auch sich nicht in der Tradition des sozialkritischen Heimatfilms sehen, zumindest die ersten Folgen des Zyklus?
Reitz: Nein, das ist nicht Sozialkritik, was da beschrieben wird, sondern hier geht es um Menschenbeobachtung und um die Beschreibung von Leben unter bestimmten Umständen. Und genau das, was die Sozialkritik immer versucht, dass alles auf seinen Begriff zu bringen, eine Distanz reinzubringen dadurch, dass man das einem Urteil unterzieht, habe ich vermieden. Das war ja gerade die Auseinandersetzung, die zum Beispiel der erste Zyklus "Heimat" überall ausgelöst hat, dass vielen Kritikern und Beobachtern gerade die sozialkritische Komponente fehlte.
Burg: Es war immer auch eine sehr liebevolle Auseinandersetzung mit der Heimat, oder?
Reitz: Auseinandersetzung ist vielleicht gar nicht das richtige Wort, sondern es geht darum, einzutauchen und ein Erlebnis des Dabeiseins zu vermitteln.
Burg: Ist das auch vielleicht das, weswegen "Heimat" so großen Bestand hat, weil sie eben auch diese Liebe für die Heimat oder alles, was so mitschwingt – auf der einen Seite die Schwierigkeit des Begriffes Heimat, aber auch dann doch diese Liebe dafür –, ernst genommen haben?
Reitz: Das Wort Liebe gefällt mir in dem Zusammenhang, weil als Filmemacher hat man ja ein ganz bestimmtes Instrument in Händen, Liebeserklärungen zu machen. Also jedes liebevoll gestaltete Bild ist eine Liebeserklärung an den Gegenstand, den man da abbildet. Und diese Beschreibung eines Charakters – nehmen wir mal an diese Großmutter oder der Bruder oder die Schwester, die da in "Heimat" geschildert werden –, in dem Moment, wo ich Bilder von ihnen mache, Szenen, Situationen beobachten, ist das meine Sprache einer Liebeserklärung. Und das ist gleichzeitig das Künstlerische daran, also die Form, die Sprache, die ich filmisch und in den Bildern finde.
"Heimat" als Trendsetter
Burg: Das was man sich ja auch noch mal ins Gedächtnis rufen kann, ist, dass in den 80er-Jahren, als der erste Zyklus lief, pro Folge neun Millionen Zuschauer vor den Fernsehgeräten saßen. Heutzutage reden alle Menschen über die Deutschen und die Serie – sehen Sie sich so ein bisschen auch als Vorreiter einer Serientradition?
Reitz: Man konnte das damals nicht wissen, obwohl mir schon vollkommen klar war, ich habe hier das Maß des normalen Kinospielfilms oder der 90-minütigen Erzählung überschritten. Das kann man nur in bestimmten Portionen, die man Serie nennt, so zum Besten geben. Aber dass das nun eines Tages mal ein großes Thema werden wird, das wir Seriendramaturgie nennen, das konnte ich damals nicht wissen. Trotzdem ist erstaunlich, dass hier Antworten gegeben werden darauf, wie man so was macht.
Also zurzeit sind die Filmemacher überall in der Welt damit beschäftigt, Strategien und Formen zu entwickeln für die Serienerzählung, und da gerät "Heimat" wieder in den Fokus. Ich bekomme Informationen darüber, dass amerikanische Regisseure, die sich mit Serien beschäftigen, auch schon von Anfang an, sich mit "Heimat" auseinandergesetzt haben. Auch bei neueren Versuchen, die es selbst in unserem eigenen Land gegeben hat und gibt, kommt man darauf, dass das ein Vorläufer ist und dass da Antworten enthalten sind über dieses Gestaltungsprinzip. Das freut mich sehr. Ich würde das gerne auch so immer weiterentwickeln.
Das Verschwinden der Filme
Burg: Herr Reitz, mich würde auch noch interessieren, Sie waren vor zwei Jahren Juror beim Lichter Filmfestival in Frankfurt am Main und lobten die talentierten Filmemacher im Land, aber beklagten, dass die Filme häufig nicht gesehen würden. "Unser Filmschaffen ist ein Friedhof der Hoffnung", sagten Sie damals. Sie sind mittlerweile 85, noch immer aktiv, was wünschen Sie eigentlich jungen Filmemachern?
Reitz: Das ist jetzt eine Situation, die sich leider immer weiter zuspitzt. Es werden immer mehr junge Leute dazu ausgebildet, sich im Medium Film auszudrücken. Es gibt diese Filmschulen, die auch jedes Jahr ein paar Dutzend neue Regisseure in die Welt entlassen, und natürlich trägt jeder von denen Träume in sich und Hoffnungen auf ein Leben voller Möglichkeiten der Verwirklichungen des Ausdrucks. Und man erlebt schon in der Regel mit seinem allerersten Film heute eine furchtbare Dämpfung der Hoffnungen.
Es werden jedes Jahr, ich würde mal schätzen, an die 100 Filme im Lande gemacht, die kein Mensch zu sehen bekommt, die irgendwo verschwinden. Da wird allzu leicht und mit allzu blödem Zynismus gesagt, sie seien es auch nicht wert und sie seien ja sowieso staatlich subventioniert, und demnach sei auch kein großes wirtschaftliches Unglück, wenn die Filme keiner sieht. Das kann so nicht stehen bleiben, da muss etwas geschehen.
Burg: Haben Sie eine Idee, was passieren könnte?
Reitz: Also, was schon mal sehr wichtig wäre, dass sich die Jungen ihrer Situation auch gemeinsam bewusst werden. Jeder Einzelne hat eine Leidensgeschichte. Schon mit seinem ersten Film wird er in Resignationen getränkt. Die meisten erleben, dass ihr Erstlingswerk nach ein paar Tagen in der Versenkung verschwindet. Das ist natürlich bedauerlich, aber ist unproduktiv, wenn das nicht von der ganzen Generation gleichzeitig wahrgenommen wird. Und dieser Schritt muss einfach kommen. Das ist eine meiner Hoffnungen.
Und die andere ist, diese allgemeine Situation braucht Lösungen, das weiß jeder. Die neuen digitalen Medien haben dazu geführt, dass es Verbreitungswege gibt über die Streaming-Portale und so weiter, von denen kein Mensch träumen konnte. Noch vor wenigen Jahren konnte man sich nicht vorstellen, dass zum Beispiel das Fernsehen mal seine absolute Leitfunktion innerhalb des audiovisuellen Programms verlieren wird, dass das Fernsehen ebenfalls bangen muss um seine Zukunft. Das ist eine Situation, in der es Antworten geben muss, unabhängig davon, ob es die Jungen oder die Alten sind, einfach, das Kino muss neu erfunden werden. Wir stecken in einer Situation, in der alle kreativen Kräfte der Welt gefordert sind, denn die Liebe zum Kino haben sie ja alle, sie wissen nur nicht, wie es geht.
Wandel in der Gesellschaft
Burg: Es wird gerade auch in Hollywood und nun seit ein paar Tagen auch in Deutschland über was anderes noch diskutiert, nämlich über Machtstrukturen in der Film- und Fernsehindustrie. Braucht es Ihrer Meinung nach auch einen Strukturwandel?
Reitz: Ja, das beschränkt sich ja überhaupt nicht auf die Filmbranche, das ist etwas, was sich vielleicht in den Medien ein bisschen bunter ausnimmt, weil man es da mit Gesichtern zu tun hat, mit denen die Medien wiederum selbst umgehen können. Aber das, wovon Sie sprechen, gibt es in der Wirtschaft, das gibt es in der Politik, das gibt es in den Wissenschaftsbereichen.
Das gibt es überall, in allen Lebensbereichen, und ist ein großes Thema der Entwicklung, auch der Geschlechtergerechtigkeit, des demokratischen Denkens und Fühlens. Das ist ein großes gesellschaftliches Pensum, das die Menschheit lösen muss. Und da sehe ich den Film in keiner Weise in einer Vorreitersituation.
Burg: Sie meinen, es braucht einfach einen gesamtgesellschaftlichen Wandel?
Reitz: Ja, der hat aber begonnen, der ist wirklich unaufhaltsam.
Burg: Der Regisseur Edgar Reitz – im Filmhaus Nürnberg gibt es derzeit eine große Werkschau. Bis zum 4. März wird sein Werk erstmals gebündelt präsentiert in über 50 Veranstaltungen. Herzlichen Dank, Herr Reitz, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit uns zu sprechen!
Das Filmhaus Nürnberg zeigt die Retroperspektive mit Filmen des Regisseurs Edgar Reitz vom 5. Januar bis zum 4. März 2018. Näheres zum Kinoprogramm und Auftritten von Edgar Reitz finden Sie hier: