James Agee: "Der Tramp und die Bombe. Der Film, den Chaplin nie drehte"
Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Stumpf und Sven Koch
Diaphanes Verlag, Berlin 2014
200 Seiten,18,95 Euro
Endzeitgeschichte für Charlie Chaplin
Eine Atombombe explodiert über New York. Der Tramp überlebt und könnte die Welt retten. James Agee schrieb diese Geschichte 1947 für Charlie Chaplin, der sie jedoch nie verfilmte.
James Agee (1909-1955) war ein vielseitiger Autor, Journalist und Drehbuchautor. Sein Roman "Ein Todesfall in der Familie" wurde posthum mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Gemeinsam mit dem Fotografen Walter Evans hatte er Mitte der 30er-Jahre bei Erntearbeitern in Alabama recherchiert und daraus eines der bedeutenden Zeugnisse der amerikanischen Depressionszeit gemacht: "Preisen will ich die großen Männer".
Von 1942 bis 1948 war er einer der einflussreichsten Filmkritiker seines Landes - und in den 50er-Jahren schrieb er die Drehbücher für John Hustons "African Queen" und Charles Laughtons "Die Nacht des Jägers". Vor diesen beiden Filmen, die heute Hollywoodklassiker sind, entwarf er eine Kinogeschichte für den von ihm hoch verehrten Charlie Chaplin und seinen Tramp.
Chaplin hatte sich von seiner populären Figur allerdings längst verabschiedet und kommt 1947 mit "Monsieur Verdoux" bei der Kritik nicht gut an. Anders als seine Kollegen sah Agee aber auch in der Geschichte des Frauenmörders ein Meisterwerk.
Hoffnung auf eine bessere Art des Zusammenlebens
1948 schickt er dem bewunderten Regisseur die ausgearbeitete Idee für einen Film, der keine "politische Satire, jedenfalls keine im herkömmlichen Sinn" sein wollte, in dem "zwei Arten von Komik - die scharfe Bissigkeit und Bitterkeit von Verdoux und die menschliche Komik des Tramps" miteinander verschmelzen und kollidieren sollten.
Es ist eine Endzeitgeschichte: Nach einem Atombombenabwurf über New York ist die Zivilisation am Ende. Nur der Tramp und - wie sich später herausstellt - einige wenige Menschen haben die Katastrophe überlebt. Sie bilden rasch eine Not-Gemeinschaft ohne Konkurrenz und Gewalt. Eine Utopie, für die Agee nicht umsonst Chaplins naive und berührende Figur ins Zentrum rückt.
Die Hoffnung auf eine bessere Art des menschlichen Zusammenlebens bricht jedoch in sich zusammen, als die Wissenschaftler aus ihren Schutzräumen heraus kommen und mit ihnen Lug und Trug und Konsum.
Mit Atomwaffen den Frieden sichern
Die amerikanischen Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki hatten nicht nur James Agees Glauben zerstört, man könne mit Atomwaffen den Frieden sichern. Seine umwerfende (und komische) Kinoendzeitvision gefiel dem Pazifisten Chaplin wohl auch, zu einer Realisation, einer Zusammenarbeit kam es dennoch nicht. Dass das schade ist, zeigt dieses Buch. Agee schreibt filmisch, im kenntnisreichen Nachwort ist deswegen zu recht von einem "Lesefilm" die Rede.
Später bedauerte Chaplin, dass er den Tramp hatte sterben lassen und erkannte, "dass für den kleinen Mann auch im Atomzeitalter noch Platz gewesen wäre". Wie dieser Platz von Chaplins berühmtester Figur ausgefüllt worden wäre, kann man sich mit "Eine Atombombe explodiert über New York" vorstellen.
Für James Agee waren die wichtigsten Aspekte seiner Filmidee, "dass Utopien keine Fantasiewelten sind; dass das meiste Leid Einzelner niemals geheilt und dass die meisten Bedürfnisse niemals gestillt werden und dass sie größere Beachtung finden sollten."