Ein Leben als Displaced Person
Der litauische Autor und Filmer Jonas Mekas gehört mit 95 Jahren zu den ältesten Künstlern der documenta 14. In seinem Werk, das in Kassel zu sehen ist, erzählt er eine ziemlich aktuelle Geschichte: Seine eigene, die einer Displaced Person.
Sonntagnachmittag, strahlender Sonnenschein, 15 Uhr. Warten auf Jonas Mekas vor dem Funkhaus in Berlin. Doch niemand kommt.
SMS: "Dear Christine, this is Sebastian and Jonas Mekas, just to let you know we are outside the Hotel."
Aber – wo ist das Taxi, das wir geschickt haben?
Das Taxi weigert sich, den großen alten Mann des Films abzuholen: Eine Fahrraddemo sorgt für Verkehrschaos. Ein Freund mit Privat-Auto gelangt zwar nach einer Stunde vor das Hotel, wo Mekas, 95, samt Sohn sich in der Hitze geduldig die Beine in den Bauch stehen. Aber – weiterhin kein Weg frei von dort ins Funkhaus. Kein Interview. Immerhin: Ein Fan-Selfie mit Beweis der Anwesenheit Mekas kommt zustande. Das nützt nur nix im Radio.
Im Funkhaus derweil: Blättern beim Warten in Mekas frisch auf deutsch erschienen Erinnerungen aus den Jahren 1944 bis 1955: "I had nowhere to go". Wie jetzt zynischerweise auch: "Ich hatte keinen Ort".
"1955: Manchmal komme ich mir wie ein Hund vor. Ich beginne, jeden Ort zu mögen, an dem ich länger als einen Tag bleibe. Ich beginne, jede kleine Stadt oder Straße, in die ich geworfen werde, zu mögen. Ich habe keinerlei Ort, der all meine Erinnerungen ersetzen könnte."
Verbindungen zur Flüchtlingssituation heute
Auf der documenta in Kassel zeigt Mekas Erinnerungen an die Zeit im Lager für "Displaced Persons", tatsächlich auch in Kassel. Fotos und Notizen. Vom Gespräch mit einer Mitarbeiterin der International Refugee Organization beispielsweise, die ihn nach seinem Lebensplan fragte. "Ich bin Dichter", sagte der junge Jonas Mekas. Die Flüchtlingshelferin schwieg damals bedenklich dazu.
Ob das ein Plan ist für eine "Displaced person", einen Flüchtling, einen Vertriebenen? Und Mekas, den wir dann spätabends nach einer Lesung doch noch in aller Kürze treffen konnten, sagt heute dazu:
"Die Fotos aus dieser Zeit haben natürlich Verbindungen zur Flüchtlingssituation heute."
Das Heimatlos-Sein beschäftigt Mekas immer wieder in seiner Arbeit.
"Wenn Du aus Deiner Heimat vertrieben wirst, bist Du niemals mehr zuhause. Oder Dein Zuhause ist überall. Nach dem Zweiten Weltkrieg durften wir nicht mehr heim kehren, wir wussten nicht, ob wir jemals wieder zurück können würden. In meinem Fall dauerte es 25 Jahre, bis mir erlaubt wurde, meine Familie zu besuchen."
Und obwohl Mekas betont, dass er ein spezieller Flüchtling gewesen sei, da er immer schon woanders sein wollte – sprechen seine Tagebucheinträge Bände vom Seelen-Drama, das ihn begleitet hat:
"1950. Aber meine Frau, diese eine Frau, ist Litauen. Die Sache ist allerdings die, dass ich nur in meinen Träumen bei ihr Zuflucht finden kann. Meine Einsamkeit ist riesig, schmerzhaft und hoffnungslos."
Mekas lässt die Kamera selbst das Leben anschauen
Mekas wurde in den USA zu einem der wichtigsten und stil-prägendsten Experimentalfilmer – der nie zuerst nach der perfekten Kameraeinstellung sucht, sondern die Kamera, wie er mal sagte, selbst das Leben anschauen lässt. Er nimmt bis heute alles auf, geht spazieren mit der Kamera, auch unser schnelles Interview übrigens ist nun auf Film gebannt:
"My camera is always in the pocket, actually I am taping you while talking."
Nach den unerbittlichen Zeiten des Ankommens in den USA, durchgeschüttelt von Heimweh und der Erschöpfung beim Versuch, Fuß zu fassen, wird Mekas Teil einer neu entstehenden Kultur-Szene – und einer der Größen des US-amerikanischen Avantgarde-Kinos:
"Ich kam nach New York, als alle Kunstformen, das klassische Theater, Musik und Film quasi ihr Ende gefunden hatten – alles veränderte sich. Die Happenings zogen in die Musik ein, da war John Cage, die Fluxus-Bewegung. Das Theater veränderte sich; und ich war dabei, während dieses Übergangs, dieser kreativen Phase der Beat Generation. Es war sehr aufregend: Da gab es Warhol, Jack Smith, die eine neue Richtung in die Kunst brachten, einen neuen Ansatz."
"Ausbrechen in Richtung Zukunft"
Jonas Mekas arbeitete mit Warhol, Yoko Ono, Allen Ginsberg oder Harold Pinter. Er gründete in den 60ern die Anthology Film Archives, ein Museum für Filmkunst und ist mit seinem 95 Jahren heute noch dabei eine dazugehörige Bibliothek zu vervollständigen – das dauere noch zwei, bis drei Jahre. Ich bin nicht interessiert an der Vergangenheit, sagt Mekas heute:
"Manchmal ist es gut, wirklich auszubrechen, in Richtung Zukunft. Sei offen für alle neuen Möglichkeiten; nicht alles, mit dem man aufgewachsen ist, ist wirklich gut – und manches kann wirklich verändert oder zurückgelassen werden."
So vielleicht auch das Auto, mit dem wir Jonas Mekas eigentlich abholen wollten. Das nächste Mal wird es ganz bestimmt ein Fahrrad sein.