Filmreife Überwältigung
Nach seinem erfolgreichen Debütroman "Als wir träumten" legt der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer nun einen Erzählungsband vor. Er handelt von Zigaretten, leeren Flaschen und dem Rauschen des Alltags. Meyer beweist in "Die Nacht, die Lichter" ein feines Gespür für Pathos.
Clemens Meyers Debüt "Als wir träumten" war ein Erfolg. Trotzdem bekam der junge Autor sofort die Peitsche des Betriebes zu spüren. Wenige Wochen nach dem Erscheinen seines Romans las er beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eine Geschichte über einen alternden Häftling in Torgau: "Knastromantik" und "Unterschichts-Kasperltheater" spottete die Jury.
"Reise zum Fluss" hieß die in Klagenfurt demonstrativ zurückgewiesene Kurzgeschichte. Verschämt verbirgt sie sich jetzt im hinteren Teil von Meyers aktuellem Erzählband "Die Nacht, die Lichter" und erwischt einen mit dem ersten Satz umso härter. "Wir nannten ihn ‚Boxer‘, weil seine Nase so platt geprügelt war, dass sie fast in seinem Gesicht verschwand." Der Erzähler teilt sich mit dem Boxer eine Zelle, und als er Ausgang bekommt, bitte der alte Mann ihn, Schulden für ihn einzutreiben und das Geld seiner Tochter zu bringen: "Sie lernt noch, in ‘nem richtigen Hotel." Doch die Tochter macht keine Lehre, sie arbeitet als Prostituierte. Ist es das, was der Boxer hören will? "Geht ihr gut", sagt der Erzähler, als er am Montag wieder zurück im Gefängnis ist.
"Reise zum Fluss" ist die perfekte short story in amerikanischer Tradition, wortkarg und spannend bis zum letzten Satz: Clemens Meyer beherrscht sein Handwerk. Darüber hinaus besitzt er ein Gespür für Pathos. Wenn der Erzähler zusammen mit dem Boxer schweigend in der Zelle sitzt und das Licht der Hofscheinwerfer durch das vergitterte Fenster fällt, oder wenn er später, am Ende seines Hafturlaubs, desillusioniert eine Kippe in das dunkle Wasser der Elbe schmeißt, dann ist das genau das Maß an filmreifer emotionaler Überwältigung, das man in der deutschen Gegenwartsliteratur sonst vergeblich sucht.
Meyer hat keine Angst vor großen Gefühlen, das merkt man in jeder der 16 Erzählungen: Ein Arbeitsloser setzt seine letzten Euros beim Pferderennen, um seinen Hund beim Tierarzt behandeln lassen zu können, auf dem Balkon eines Wendeverlierers "klirren leise die leeren Bierflaschen", und am Ende einer Liebesgeschichte bleibt nichts als ein Blick auf die Böschung der Autobahn, auf leere "Zigarettenschachteln und Papier".
Ein besseres Leben wartet hier auf niemanden. Doch die Stricher, 1-Euro-Jobber und ausgebrannten Vertreter in "Die Nacht, die Lichter" haben alle ihre kleinen Momente. "Fahr die Gabel ganz hoch", sagt Marion, die zu Hause von ihrem Mann verprügelt wird. Und dann: "Lass wieder runter, aber ganz langsam." Christian, der im Supermarkt den Gabelstapler fährt, bewegt einen Hebel, und Marion und er lauschen der austretenden Luft der Hydraulikanlage. "Es klang tatsächlich ein wenig wie das Rauschen der Wellen am Meer".
Nicht jedes Bild, nicht jede Formulierung ist so makellos. Manchmal geht Meyer zu lässig mit seinen Adjektiven um. Dann träumt ein Boxprofi arg bescheiden von einem "kleinen" Studio, und abends glitzern in der Stadt die "vielen bunten Lichter" wie in einem Kinderbuch. Und ein Taxi, das auf Seite 121 eine der zahllosen verlorenen Seelen zum Bahnhof bringt, kommt auf Seite 146 in exakt derselben Formulierung noch einmal zum Einsatz. Diese Frage geht an das Lektorat: Warum wird das Manuskript eines Autor, dessen erster Roman sich 40.000 mal verkauft hat, in einem angesehen Verlagshaus eigentlich nicht gründlich gelesen?
Rezensiert von Kolja Mensing
Clemens Meyer: Die Nacht, die Lichter
Erzählungen, S. Fischer, Frankfurt am Main 2008.
265 Seiten, 18,90 Euro.
"Reise zum Fluss" hieß die in Klagenfurt demonstrativ zurückgewiesene Kurzgeschichte. Verschämt verbirgt sie sich jetzt im hinteren Teil von Meyers aktuellem Erzählband "Die Nacht, die Lichter" und erwischt einen mit dem ersten Satz umso härter. "Wir nannten ihn ‚Boxer‘, weil seine Nase so platt geprügelt war, dass sie fast in seinem Gesicht verschwand." Der Erzähler teilt sich mit dem Boxer eine Zelle, und als er Ausgang bekommt, bitte der alte Mann ihn, Schulden für ihn einzutreiben und das Geld seiner Tochter zu bringen: "Sie lernt noch, in ‘nem richtigen Hotel." Doch die Tochter macht keine Lehre, sie arbeitet als Prostituierte. Ist es das, was der Boxer hören will? "Geht ihr gut", sagt der Erzähler, als er am Montag wieder zurück im Gefängnis ist.
"Reise zum Fluss" ist die perfekte short story in amerikanischer Tradition, wortkarg und spannend bis zum letzten Satz: Clemens Meyer beherrscht sein Handwerk. Darüber hinaus besitzt er ein Gespür für Pathos. Wenn der Erzähler zusammen mit dem Boxer schweigend in der Zelle sitzt und das Licht der Hofscheinwerfer durch das vergitterte Fenster fällt, oder wenn er später, am Ende seines Hafturlaubs, desillusioniert eine Kippe in das dunkle Wasser der Elbe schmeißt, dann ist das genau das Maß an filmreifer emotionaler Überwältigung, das man in der deutschen Gegenwartsliteratur sonst vergeblich sucht.
Meyer hat keine Angst vor großen Gefühlen, das merkt man in jeder der 16 Erzählungen: Ein Arbeitsloser setzt seine letzten Euros beim Pferderennen, um seinen Hund beim Tierarzt behandeln lassen zu können, auf dem Balkon eines Wendeverlierers "klirren leise die leeren Bierflaschen", und am Ende einer Liebesgeschichte bleibt nichts als ein Blick auf die Böschung der Autobahn, auf leere "Zigarettenschachteln und Papier".
Ein besseres Leben wartet hier auf niemanden. Doch die Stricher, 1-Euro-Jobber und ausgebrannten Vertreter in "Die Nacht, die Lichter" haben alle ihre kleinen Momente. "Fahr die Gabel ganz hoch", sagt Marion, die zu Hause von ihrem Mann verprügelt wird. Und dann: "Lass wieder runter, aber ganz langsam." Christian, der im Supermarkt den Gabelstapler fährt, bewegt einen Hebel, und Marion und er lauschen der austretenden Luft der Hydraulikanlage. "Es klang tatsächlich ein wenig wie das Rauschen der Wellen am Meer".
Nicht jedes Bild, nicht jede Formulierung ist so makellos. Manchmal geht Meyer zu lässig mit seinen Adjektiven um. Dann träumt ein Boxprofi arg bescheiden von einem "kleinen" Studio, und abends glitzern in der Stadt die "vielen bunten Lichter" wie in einem Kinderbuch. Und ein Taxi, das auf Seite 121 eine der zahllosen verlorenen Seelen zum Bahnhof bringt, kommt auf Seite 146 in exakt derselben Formulierung noch einmal zum Einsatz. Diese Frage geht an das Lektorat: Warum wird das Manuskript eines Autor, dessen erster Roman sich 40.000 mal verkauft hat, in einem angesehen Verlagshaus eigentlich nicht gründlich gelesen?
Rezensiert von Kolja Mensing
Clemens Meyer: Die Nacht, die Lichter
Erzählungen, S. Fischer, Frankfurt am Main 2008.
265 Seiten, 18,90 Euro.