Mädchen, die sich dem IS anschließen
In einer Welt, die sonst nur den Konsum anpreise, erreiche der IS junge Menschen mit Idealen. Das sagt die französische Filmemacherin Marie-Castille Mention-Schaar. Am Donnerstag startet in Deutschland ihr Film "Der Himmel wird warten".
Susanne Burg: Im Zentrum der Geschichte stehen zwei Teenager in Frankreich, denen Sie dabei folgen, wie sie immer stärker in islamistisches Denken hineingezogen werden und von denen eine schließlich zu zweifeln beginnt. Sie heißen Sonia und Melanie – warum Mädchen?
Marie-Castille Mention-Schaar: Mich haben Mädchen, die eine solche Radikalisierung – ein heftiges Wort – erfahren haben, sehr fasziniert und ich hatte eine Menge Fragen dazu. Ich habe viele Artikel über Teenager gelesen, über Mädchen, die mit 14, 15 Jahren nach Syrien gegangen waren. Ich fand das unglaublich und verstand nicht, wie so etwas passieren konnte. Ich habe also bei dem Thema etwas tiefer gebuddelt und mir genauer angesehen, wie es in unserem Land zu so etwas kommen kann. Es stimmt, dass mich die Mädchen dabei mehr fasziniert haben, weil es mir noch unrealistischer erschien, als wenn Jungen so etwas machen. Darum habe ich mich um die Mädchen gekümmert.
Burg: Sie haben gesagt, Sie haben angefangen zu graben – wie genau haben Sie Ihre Nachforschungen durchgeführt?
Drei Monate mit Dounia Bouzar unterwegs
Mention-Schaar: Als erstes traf ich mich mit Eltern von Mädchen, die weggegangen waren. Da sprach ich aber eben immer nur mit den Eltern oder mit Geschwistern über die jeweiligen Mädchen, nie mit ihnen selber, weil sie ja nicht mehr da waren. Dabei fragten mich viele Leute, ob ich Dounia Bouzar kannte, die mit Familien arbeitete, die von dieser Tragödie betroffen waren. Also traf ich mich mit ihr und erzählte ihr von meinen Plänen. Sie war damit einverstanden, dass ich sie und ihr Team begleiten würde, was ich dann drei Monate lang getan habe.
Burg: Sie haben sich dann entschieden, zwei Geschichten zu erzählen, warum zwei und nicht nur eine?
Mention-Schaar: Als ich mit Dounia arbeitete, habe ich entdeckt, dass es auch Bewegungen in die andere Richtung gab, dass einige Mädchen daran arbeiteten, wieder aus dieser Sache auszusteigen und dass manche es auch schafften, aus der Radikalisierung wieder herauszukommen, auch wenn man nie weiß, wie es ausgeht. Noch fehlt uns die Zeit zu sehen, ob diese Deradikalisierungen langfristig sind oder ob man wieder zurückfällt. Aber ich bin Mädchen gefolgt, die sich auf dem Weg hin zu etwas weniger Dunklem befanden, und ich wollte diese Hoffnung unbedingt wiedergeben. Darum habe ich mich dafür entschieden, die Geschichte von zwei Mädchen zu erzählen, von einer, die in diesen Prozess eintaucht und von einer, die wieder herauskommt.
Burg: Diejenige, die wieder herausfindet, Sonia, wollte eigentlich nach Syrien gehen und geht dann doch nicht. Sie beginnt zu zweifeln, scheint aber dennoch gefangen zu sein, fast wie in einer Sekte. Warum braucht sie so lange, um mit diese Denken zu brechen?
"Das ist wie Alkoholismus"
Mention-Schaar: In Wirklichkeit dauert das wahrscheinlich noch länger. Darum ist es ja so schwer. Das ist wie Alkoholismus. Man weiß nie, ob man nicht irgendwann wieder einen Rückfall bekommt, wenn man zum Beispiel eine schwierige Lebensphase hat, wenn irgendetwas den seelischen Zustand erschüttert, dann weiß man nicht, ob man nicht vielleicht zurückfällt in etwas, dass erstmal bequemer erscheint, dass einen erfüllt. Und das ist auch bei Sonia der Fall. Es ist sehr einfach und schnell dort hineinzugeraten und es ist sehr langwierig und schwierig, wieder herauszukommen.
Burg: Sie haben von Dounia gesprochen, die mit Eltern und Teenagern selber spricht. Welche Strategien hat sie, um die Teenager zu erreichen?
Mention-Schaar: Sie sagt gleich als erstes, dass sie keinen Zauberstab hat. Sie sei es nicht selber, die die Jugendlichen da heraus hole, das seien die Eltern, die Liebe und Zuneigung, die unmittelbare Umgebung der Teenager. Sie ist nur dazu da, ihnen ein paar Tipps zu geben, wie sie wieder aus der Angelegenheit raus kommen können. Sie versucht, die Jugendlichen wieder mit ihrem menschlichen Wesen zusammenzubringen, das sie vorher einmal waren.
Burg: Wir sollten auch noch über das zweite Mädchen sprechen, Melanie. Sie wird durch einen Email-Kontakt mit einem Mann radikalisiert, der sie anfangs sehr zu unterstützen scheint und der verständnisvoll ist, sie dann aber an einem bestimmten Zeitpunkt auf Religion anspricht und ihr entsprechende Video-Links schickt. Man hört oft, dass Teenager über das Internet rekrutiert werden. Dennoch erscheint es irgendwie seltsam, dass Melanie eine so intime Verbindung mit jemandem eingeht, den sie eigentlich nie persönlich sieht. Wie funktioniert das?
"Jetzt passieren viele Dinge eben über das Internet"
Mention-Schaar: Was denken Sie denn über all diese Dating-Plattformen? Wir als Erwachsene treffen online Leute und manchmal gehen Leute Beziehungen ein oder heiraten sogar Personen, die sie im Internet kennenlernen. Wir leben heutzutage nun mal in einer Welt, in der das Virtuelle an vielen Stellen die Realität ersetzt hat. Das ist heute Teil des Lebens von Teenagern, mehr noch als von Erwachsenen. Das müssen wir akzeptieren, dabei aber all die Gefahren im Auge behalten, die damit zusammenhängen. Wenn man als Teenager, als junges Mädchen eine Beziehung haben möchte, jemanden, der einem sagt, dass man hübsch aussieht, nett und etwas Besonderes ist, dann kennen wir das alle. Der Unterschied ist nur, dass das früher von Angesicht zu Angesicht stattfand und jetzt passieren viele Dinge eben über das Internet.
Burg: Sie haben ein Werbevideo des sogenannten Islamischen Staats mit in ihren Film eingebunden. Haben Sie dabei gezögert?
Mention-Schaar: Es ist lustig, dass Sie das ein Werbevideo nennen….
Burg: Wie würden Sie es denn nennen?
Mention-Schaar: Nun, ich denke schon, dass das die Realität ist. Für mich ist das Video im Film das angsteinflößendste Video, das man finden kann. Es zeigt viel Gewalt, sogar mich hat das nicht locker gelassen. Selbst bei mir hat das Fragen berührt, die ich habe…
Burg: Welche zum Beispiel?
Was bieten wir unseren Teenagern?
Mention-Schaar: Was ist der Sinn unseres Lebens? Besteht der nur darin, Dinge zu besitzen? Zur Schule zu gehen, zu arbeiten, Sachen zu kaufen, mehr Dinge zu kaufen, dann in Rente zu gehen und zu sterben? Ist das ein Ziel im Leben? Wenn man das in einem Alter sieht, in dem man nach einem Sinn sucht, in dem man nützlich sein möchte, kann das eine Antwort auf diese Fragen für Teenager sein: "Du kannst etwas Besonderes sein! Du kannst etwas tun!" Ich glaube, dass uns das sonst fehlt, in unserer westlichen Gesellschaft.
Was bieten wir unseren Teenagern, das ihnen hilft, sich als menschliche Wesen zu positionieren, zu sein und nicht zu haben? Unsere Gesellschaft ist so konsum-orientiert, und als Teenager möchte man Ideale haben. Welche Ideale stellen wir unseren Teenagern und der Jugend allgemein zur Verfügung? Der IS hat einen Weg gefunden, Ideale anzubieten, so unrealistisch und unfassbar es auch erscheinen mag.
Burg: Sie haben mit den Dreharbeiten am 16. November 2015 angefangen, also drei Tage nach den Terroranschlägen in Paris. Nun sollten zwei Frauen diese pro-IS Rollen spielen. Hatten Sie das Gefühl, dass Sie einfach so drehen können wie geplant?
Mention-Schaar: Das war ein sehr schwieriges Wochenende. Freitag und Samstag standen alle so sehr unter Schock. Das Leben war angehalten worden. Alles, woran man denken konnte, war, was da passiert war, der Schmerz und das Leiden. Wenn man dann in die Realität zurückkehrt und feststellt, dass man ja gerade beginnt, einen Film zu drehen – mit so einem Thema … wie Sie sagten, da fragt man sich schon: Sollte ich vielleicht einfach aufhören? Ist das nicht zu heftig für die beiden jungen Mädchen, die das jetzt spielen sollen? Nützt es irgendetwas, oder schadet es eher?
Da kommen so viele Fragen auf. Wir haben sehr viel darüber geredet. Wir haben dann wohl auch weitergemacht, weil wir dachten, dass ein solcher Film dabei helfen kann, die Angst zu durchbrechen, die ganz plötzlich jeden in Frankreich befallen hatte. Wir sahen das eher als einen Akt des Widerstands. Zu verstehen, wie es zu solchen Dingen kommen kann, half uns dabei, weniger Angst zu haben. Wir dachten also, dass das auch dem Publikum so gehen könnte, darum haben wir weitergemacht.
Burg: Ihr letzter Film "Die Schüler der Madame Anne" basierte auf einer wahren und Mut-machenden Geschichte, darüber, was in einer Schule möglich ist, die den Stempel der Banlieus verpasst bekommen hat, also als unterprivilegiert gebrandmarkt ist. Wie stark ist Ihr Impuls als Regisseurin, Geschichten aus einer gewissen sozio-politischen Dringlichkeit heraus zu entwickeln?
Mention-Schaar: Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wie ich diese Frage beantworten soll. Geschichten ziehen mich an. Oder auch Fragestellungen. Die Geschichte der Schüler der Madame Anne war mir praktisch in den Schoß gefallen. Es war so ein glücklicher Zufall. Ich frage mich sozusagen als erstes Publikum meines Films selber, ob ich diese Geschichte sehen möchte. Könnte sie mein Leben ein bisschen besser machen? Lerne ich etwas daraus? Nützt sie mir irgendwie? Stellt sie gute Fragen? So funktioniere ich, so läuft das bei mir ab.