Keine Spritze, kein Pflaster
Die Finanzlage der Krankenkassen in Griechenland ist wegen der Wirtschaftskrise desolat. Auch Krankenhäuser und Versicherte müssen sparen. Das Ergebnis: Es fehlt selbst an kleinstem Material. Engagierte Bürger versuchen zu helfen.
Vormittagsroutine im Panteleimonas-Krankenhaus in Athen. In den überfüllten Wartezimmern hängen Kabel von der Decke, die Möbel sind schäbig und ramponiert. Für Panayiotis Papanikolaou sind diese Äußerlichkeiten das geringste Problem. Denn wenn der Neurochirurg morgens herkommt, weiß er noch nicht einmal, ob er alles Material vorfinden wird, das er für die Arbeit braucht:
"In letzter Zeit haben wir immer wieder Engpässe. Mal fehlen uns Spritzen, mal Venenkatheter, mal Mullbinden. Und was wir bekommen, bekommen wir in kleinen Mengen. Vor ein paar Wochen wussten wir nicht mehr weiter. Wir hatten keine Einweghandschuhe mehr. Diese Tage haben wir nicht genügend Spritzen."
Panayiotis Papanikolaou bringt sein eigenes Leukoplast mit, andere besorgen in umliegenden Apotheken selber Einweghandschuhe, all das von ihrem eigenen, gekürzten Einkommen. Papanikolaou etwa, seit 22 Jahren im Dienst, verdient seit den verschiedenen Lohnkürzungen und Steuererhöhungen netto nurmehr 1500 Euro. Und für seine Überstunden ist er dieses Jahr noch gar nicht bezahlt worden. Denn dem öffentlichen Gesundheitssystem geht das Geld aus. Und weil auf zehn pensionierte Staatsbedienstete nurmehr eine Einstellung kommt, mangelt es auch an Personal:
"Nach internationalen Standards bräuchten wir in der Nachtschicht eine Schwester auf fünf bis sechs Patienten. In meiner Abteilung wären das acht Schwestern. Wir haben aber nur zwei. Und während des Schichtwechsels ist sogar oft nur eine Schwester da - für 42 Betten! Im OP-Bereich ist das ähnlich. Von unseren elf Operationssälen sind wegen Personalmangels nur sechs in Betrieb und auch das nur halbtags."
Ärzte warnen vor Minderung der Lebenserwartung
Landesweit sind nach Schätzungen der Pflegergewerkschaft etwa 15.000 Schwesternstellen unbesetzt. Die Mängel in den griechischen Krankenhäusern bedeuten eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit, sagt die Radiologin Leta Zotaki vom Kilkis-Krankenhaus in Nordgriechenland. In einer Protestaktion haben sie und weitere 250 Kollegen die Verwaltung ihres Krankenhauses besetzt. Nach drei Wochen waren die Besetzer ausgelaugt, doch ihre Forderung nach einem funktionierenden, kostenlosen Gesundheitssystem für die griechische Bevölkerung besteht weiter.
Griechische Ärzte warnen schon längst davor, dass der unzureichende Zugang zu gesundheitlicher Versorgung schon bald eine Minderung der Lebenserwartung der Griechen nach sich ziehen wird.
Dramatisch ist die Situation für diejenigen, die ihre Arbeit verloren haben. Wenn ihre Arbeitslosenhilfe nach einem Jahr ausläuft, verlieren sie auch ihre Krankenversicherung. Das hat auch der 60-jährige Kyriakos Simeonidis erfahren, dessen Konditorei im Zuge der Wirtschaftskrise bankrott ging:
"Irgendwann war unser Geld aufgebraucht. Ich habe aber eine Bypass-Operation und Diabetes und muss regelmäßig zum Arzt. Zum Glück kann ich hierher kommen. Denn ohne ärztliche Versorgung und Medikamente stünde mein Leben auf dem Spiel."
Hier, das ist ein von Freiwilligen betriebenes Medizinzentrum in einem Athener Mittelklasse-Vorort. Der Kardiologe Giorgos Vichas hat es ins Leben gerufen. Heute arbeiten hier 60 ehrenamtliche Ärzte verschiedener Fachrichtungen und 120 weitere Helfer; die Medikamente sind Spenden von Bürgern. Giorgos Vichas wusste, dass es in Griechenland große Not gibt. Doch auf das, was er in der Freiwilligenpraxis sieht, war er dennoch nicht vorbereitet.
"Es kommen Eltern mit Kindern, die keine Impfungen haben. Es kommen Eltern mit unterernährten Kindern. Vor einigen Tagen war ein Paar mit einem Säugling da, der viel zu wenig wog. Wir haben mit ihnen gesprochen. Sie hatten an der Babymilch gespart. Ihr Geschäft mit Brautmoden hat Pleite gemacht. Die ganze Familie bis hin zu den Großeltern ist arbeitslos. Und das sind Leute wie wir. Wenn man sie auf der Straße treffen würde, man käme gar nicht auf die Idee!"
Die Kinder werden von der Krise geprägt
Giorgos Vichas hat das, was er in der Praxis sieht, zeitweilig mit einer Depression bezahlt. Diese Tage war eine Frau da, erzählt der Arzt, im sechsten Monat schwanger, und sie hatte noch keinen Gynäkologen besucht. Oder der Herzkranke, der dem Arzt während der Untersuchung erzählte, er und seine Familie hätten seit vier Tagen keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen. Was Giorgos Vichas aber wirklich Angst macht, ist die Vorstellung, was die Krise für die griechische Bevölkerung langfristig bedeutet:
"Mit der Kinderärztin reden wir oft über die Langzeitfolgen. Und die werden leider nicht nur physischer Art sein. Das Schlimmste ist, dass eine ganze Generation von Kindern aufwächst, die in ihren ersten Lebensjahren von ihren Eltern kein Lächeln erfahren, keine Freude, kein Spiel. Das wird ihre gesamte Psyche beeinflussen. Die wirklichen Auswirkungen dieser Krise werden wir also sehen, wenn die Kinder, die in diesen Jahren auf die Welt kommen, erwachsen sein werden."
Giorgos Vichas und seine Kollegen erfahren in der Freiwilligenpraxis nicht nur die Not der Menschen, sie sehen auch den Kollaps des staatlichen Gesundheitssystems. Immer öfter, erzählt der Arzt, rufen große Kliniken im Freiwilligenzentrum an und fragen, ob man ihnen mit Medikamenten aushelfen könne - etwa für Chemotherapie. Natürlich wurde in der Vergangenheit viel Geld verschwendet, natürlich braucht es ein Aufräumen - hier aber werde das Gesundheitssystem eingerissen statt repariert, sagt der Kardiologe.