"Schuldenerlass ist manchmal der einzig sinnvolle Schritt"
Mit Blick aufs Alte Testament fordert Jürgen Kaiser vom Bündnis erlassjahr.de eine umfassende Entschuldung für strauchelnde Staaten wie Griechenland. Auch Privatpersonen könnten Kredite nicht immer zurückzahlen, sagt er. Für Staaten aber fehlten klare Regeln.
Kirsten Dietrich: Im Alten Testament, im Buch Leviticus, wird geregelt, wie das Volk Israel mit Besitz, Schulden und Zinsen umgehen soll. Jedes 50. Jahr, so heißt es dort, soll ein sogenanntes Erlassjahr sein: "Da soll ein jeder bei euch wieder zu seiner Habe und zu seiner Sippe kommen." Danach folgen umfangreiche Regelungen: Feldarbeit soll ein Jahr lang ruhen, Gleichheit untereinander wieder hergestellt werden. Ein großes sozialökonomisches Projekt für jede Generation.
Mit dem alttestamentlichen Gedanken des Erlassjahres fordern entwicklungspolitische Gruppen auch heute ein weltweites finanzielles Umdenken – vor allem eine umfassende Entschuldung, insbesondere für Entwicklungsländer. Ob diese Perspektive auch zu einem neuen Blick auf die verfahrene finanzpolitische Situation in Griechenland bringt, darüber habe ich mit Jürgen Kaiser gesprochen. Er ist der Koordinator des Entschuldungsbündnisses erlassjahr.de, einem Zusammenschluss vor allem kirchlicher Gruppen. Ich wollte von ihm wissen, ob ihn die Krise in Griechenland überrascht hat.
Jürgen Kaiser: Also das Frühjahr 2010, das war im Grunde der Angelpunkt alles dessen, was man heute als Griechenland-Krise bezeichnet. Das war der Moment, wo die Europäer, die europäischen Regierungen vor der Alternative standen, entweder ihren Banken einen Schuldenerlass zuzumuten oder sich selbst zu verschulden, um die Banken aus ihrem Griechenland-Engagement rauskaufen zu können, und sie haben sich für Letzteres entschieden. Und von da ab ist alles das, was danach gekommen ist – der Schuldenschnitt 2012 und die Diskussion, die wir heute haben, und die Zuspitzung der Krise –, ist eigentlich mehr oder weniger zwangsläufig aus der falschen Weichenstellung, die damals passiert ist. Und es gibt aus unserer Sicht beeindruckende Parallelen dazu, wie sich die Schuldenkrise der sogenannten Dritten Welt aufgebaut hat.
Dietrich: Das heißt es ist wirklich miteinander vergleichbar, was da jetzt in Griechenland passiert, diese Schuldenspirale, die sich da immer weiter zudreht und dem, was in Dritte-Welt-Ländern passiert. Das kommt einem ja erst mal absurd vor, das auf der gleichen Ebene zu verhandeln.
Kaiser: Ja, es ist insofern vergleichbar, wenn man auf die Prozesse guckt, wie die Krise sich aufgebaut hat. Also eine relativ schwache Regierungsführung in dem Empfängerland, ein hoher Mitteldruck in den Geberländern, die es vergleichsweise attraktiv haben, in einem Land wie Griechenland zu investieren oder einem Land wie Griechenland Geld zu leihen. Die Annahme, dass Staaten grundsätzlich nicht pleite gehen können, gegen jede historische Evidenz, das hat auch eine wichtige Rolle gespielt, und dann aber auch die Art, wie mit der Krise umgegangen worden ist, insbesondere eben dieser wichtige zentrale Schritt im Frühjahr 2010, dass zunächst mal die Krise nicht durch einen Schuldenerlass gelöst worden ist, sondern neue Mittel bereitgestellt worden sind, also die Krise finanziert wurde.
Dietrich: Sie stehen für eine Kampagne, die natürlich sich auch den Schuldenerlass auf ihre Fahnen geschrieben hat, mit dem Namen schon allein – erlassjahr.de. Warum, denken Sie, ist ein Schuldenerlass das Mittel der Wahl?
"Kredite an Einzelpersonen werden auch nicht immer zurückgezahlt"
Kaiser: Also ein Schuldenerlass ist natürlich nicht immer das Mittel der Wahl, ganz im Gegenteil. In der Regel werden Kreditverträge eingegangen, um gehalten zu werden, und das ist auch gut so. Die Frage ist, was passiert in einer Situation, wo die Dinge sich anders entwickeln als die Parteien sich das vorher vorgestellt haben, wo externe Schocks auftreten, wo die Handelsbilanzen plötzlich anders aussehen als man angenommen hat, wo sich vielleicht auch eine schlechte Regierungsführung auswirkt - wer muss dann die Kosten dafür tragen? Und dass man in der Diskussion, auch heute um Griechenland, so tut, als müssten Schulden immer bezahlt werden, das ist so absurd wie verstörend, weil das ist natürlich in normalen Geschäftsbeziehungen, in die Staaten jetzt gar nicht involviert sind, sondern Kredite an Unternehmen oder Einzelpersonen gegeben werden, ist das natürlich auch nicht so. Also da, wo ich aufgewachsen bin, sagt man, einem nackten Mann kannst du nicht in die Tasche packen, und die Bundesregierung und andere tun so, als könnte man einem Mann, der so nackend ist wie die Griechen heute, aus denen immer noch irgendetwas rausholen, und in solchen Fällen ist Erlass tatsächlich der einzig sinnvolle Schritt.
Dietrich: Finanzminister Schäuble, der hat sich beim Kirchentag auch dagegen ausgesprochen, dass Schulden eben bedient werden müssen, weil – so also der Tenor ein bisschen salopp zusammengefasst – dann könnte ja eigentlich jeder kommen, dann bricht sonst alles zusammen, was die Basis eigentlich für das Finanzwesen, für sinnvolles, sparsames, verantwortliches Haushalten ist, und die Kirchentagsbesucher, die ihm zuhörten, die haben da gerne zugestimmt.
Kaiser: Na ja, gegen alle Evidenz. Also wenn man so mit Karstadt umgegangen wäre, gäbe es Karstadt heute nicht mehr, und es gibt in die Millionen gehende Menschen in unserem Lande, die auch Insolvent sind, und dann zu sagen, Schulden müssen bezahlt werden, wenn eigentlich nichts mehr zu holen ist oder nur noch um den Preis, dass die Person verhungert oder das Unternehmen untergeht, was eigentlich lebensfähig wäre, dann ist ein solcher Satz nur noch töricht. Und in der Vergangenheit war es auch so, dass die Bundesregierung auch – übrigens unter Herrn Minister Schäuble – durchaus anderen Ländern, vor allem ärmeren Ländern, in Afrika und anderen Teilen der Welt, durchaus Schulden erlassen haben. Also dieser kursorische Satz, Schulden müssen bedient werden, sonst könnte jeder kommen oder sonst bricht das Weltfinanzsystem zusammen, der ist durch die Geschichte nicht gedeckt, der ist einfach nur töricht.
Dietrich: Was würden Sie vorschlagen? Soll man Griechen dann pleite gehen lassen?
Kaiser: Na ja, pleite gehen ist gar nicht das ... Griechenland ist pleite. Die spannende Frage ist, wie kommt man aus dieser Situation wieder raus. Welche Möglichkeiten und Mittel und Verfahren kann es geben, damit Griechenland wieder auf die Beine kommt, denn auch wenn es pleite geht, wenn der Staat pleite geht, dann wird er ja nicht im Meer versinken, sondern die Menschen werden da weiter wohnen, Griechenland wird weiter ein ökonomischer Faktor sein. Und es liegt im Interesse aller Beteiligten, dass einem überschuldeten Staat in einer solchen Situation ein Neuanfang ermöglicht wird, weil es ja auch in Zukunft mal Unternehmen gibt, die nach Griechenland was verkaufen wollen, indem dieses Land weiterhin ein wichtiger Teil der europäischen Gemeinschaft ist. Und diesen Prozess zu organisieren, den Schuldenerlass jetzt so zu organisieren, dass er fair und transparent und so kostengünstig, wie das jetzt überhaupt noch möglich ist, abläuft, das ist die Herausforderung.
Dietrich: Und wer soll so ein fairer Mittler sein? Gibt es den überhaupt?
"Staaten fair behandeln wie pleitegehende Unternehmen"
Kaiser: Den kann es geben, ja. Es gibt ihn im Moment nicht, weil auch als es in der Vergangenheit ähnliche und ähnlich große Krisen gegeben hat, gab es einige Versuche, so etwas wie ein geordnetes Staateninsolvenzverfahren zu entwickeln – beispielsweise nach der Pleite Argentiniens 2001 durch den Internationalen Währungsfonds –, und weil die Regierungen der wichtigen Länder aber so sehr an ihrem Glaubenssatz festgehalten haben, dass eigentlich alle Staatspleiten der Vergangenheit – und es gab einige Hundert davon –, eigentlich immer nur bedauernswerte Einzelfälle gewesen sind und nicht ein strukturelles Problem, was mit der Kreditvergabe als solcher zu tun hat, deswegen hat man nie ein geordnetes Verfahren entwickelt, wie Staaten dann genauso rechtsstaatlich fair behandelt werden können wie eben pleitegehende Unternehmen oder Einzelpersonen.
Dietrich: Sie haben einen Vorschlag dafür entwickelt. Wie könnte das ablaufen oder was sieht der vor?
Kaiser: Also es gibt einige Grundregeln, die ein solches Verfahren widerspiegeln muss: Das Erste ist, dass natürlich niemand Richter in eigener Sache sein darf. Wir haben jetzt eine Situation, wo die Troika, also diejenigen, die gleichzeitig die Kreditgeber sind, darüber entscheiden, ob sie ihr Geld wiederbekommen. Da muss man jetzt kein Ökonom für sein, um sich vorzustellen, dass das nicht unbedingt zu einem ausgewogenen und weitschauenden, vorausschauenden Ergebnis führen wird, sondern in so einer Situation, wo jemand Richter in eigener Sache ist, ist das Ergebnis automatisch ein schiefes, und so war es auch in allen Staatsschuldenkrisen in der Vergangenheit. Das heißt wir brauchen als Allererstes mal eine neutrale Instanz, so etwas wie einen Insolvenzrichter, der die Entscheidungen trifft.
Das Zweite ist, dass solche Entscheidungen getroffen werden müssen auf der Grundlage von unabhängigen Gutachten. Aus unserer Sicht, die wir zu diesem Thema arbeiten, ist einer der interessantesten Aspekte der Diskussion, die wir im Moment haben, wie die Vorhersagen des IWFs sich verändert haben. Der IWF hat eine sehr, sehr traurige Tradition davon, dass er die wirtschaftlichen Prognosen für Staaten stets so abgibt, dass Schuldenerlasse eigentlich nicht notwendig sind oder wenn dann allenfalls in dem Rahmen, den die Gläubiger vorher schon zugestanden haben.
Dietrich: Gibt es irgendwelche Zeichen, dass an politisch relevanter Stelle über so ein Insolvenzverfahren für Staaten überhaupt nachgedacht wird?
Kaiser: Durchaus. Also wir sind in Deutschland in der interessanten Situation, dass – nicht ganz ohne das Zutun von erlassjahr.de – wir schon zwei Bundesregierungen hatten, die genau die Schaffung eines solchen Verfahrens zum politischen Ziel erklärt haben, nämlich Rot-Grün 2002 und Schwarz-Gelb 2009. Beide haben bedauerlicherweise sehr wenig getan, um das dann auch in die Praxis umzusetzen. Aber es gab auch international wichtige Prozesse, wie zum Beispiel den Vorschlag des Internationalen Währungsfonds 2001, den ich eben schon erwähnt habe, oder auch einen Prozess, der im Moment in der Vollversammlung der Vereinten Nationen läuft, den allerdings nicht die Industrieländer angestoßen haben, sondern die sogenannte G-77 – das ist die Vertretung von Entwicklungs- und Schwellenländern –, die versuchte zu erreichen, dass die Vereinten Nationen als eine Institution, die selber nicht Schuldner oder Gläubiger ist, einen solchen Rechtsrahmen für eine geordnete Staateninsolvenz entwickeln sollten. Unglücklicherweise verweigert sich die Bundesregierung und einige wenige andere Industrieländer diesem Prozess.
Dietrich: Wie kann es dann weitergehen? Also wo sehen Sie Hoffnung dafür, dass überhaupt Bewegung ins Spiel kommen kann?
Kaiser: Ganz viel Hoffnung kommt jetzt zunächst mal schon aus der Tatsache, dass wir eine griechische Regierung haben, die nicht so mit sich umspringen lässt, wie die Regierungen vorher. Wie immer man einzelne Operationen von Herr Varoufakis oder Herrn Tsipras findet, die Tatsache, dass wir eine griechische Regierung haben, die griechische Interessen vertritt, also generell gesagt, die Interessen des Schuldners tatsächlich auch mit einem gewissen Nachdruck vertritt, das ist ein sehr, sehr großer Fortschritt. Und ohne eine solche klare Haltung, wäre auch in anderen Fällen eine tatsächlich tragfähige Lösung nicht zu erreichen.
Dietrich: Die Initiative erlassjahr.de kommt ja aus Entwicklungsarbeit der Kirchen. Gibt es eigentlich Impulse auch von kirchlicher Seite aus Griechenland, die dem entsprechen würden?
Kaiser: Unseres Wissens nach nicht. Wir arbeiten natürlich eng mit den Kirchen in Deutschland zusammen, wir arbeiten auch mit verschiedenen ökumenischen Organisationen zusammen, aber dass die griechische Kirche an diesem Punkt eine starke Position eingenommen hätte – wenn es so war, dann ist es mir ehrlich gesagt entgangen.
Dietrich: Dieses ganze Finanzdebakel – wenn ich es mal so nennen darf –, ist das eigentlich ein finanzielles oder eher ein moralisch-ethisches Problem?
Finanzkrise "ist in erster Linie ein politisches Problem"
Kaiser: Es ist in erster Linie ein politisches Problem, glaube ich, was natürlich dann mit Ökonomie und mit Moral und Ethik sehr, sehr viel zu tun hat. In unserer Sicht ist es ein Fehlen von Strukturen, von Regularien, von politischen Prozessen, die eigentlich notwendig sind. Wenn man ein derart dynamisches, riesiges, unüberschaubares Gebilde wie die globalisierte Weltwirtschaft, die wir im Moment haben, wenn man die irgendwie im Interesse von Bevölkerungen steuern will, dann braucht man dafür stärkere Regeln, Verbindlichkeiten, als man sie geschaffen hat. Der Prozess seit der neoliberalen Revolution, seit Reagan und Thatcher, ist ja dahin gegangen, Regelungsmöglichkeiten, die demokratisch gewählte Regierungen und Parlamente gehabt haben gegenüber Kapitaleigentümern, die systematisch abzubauen, in der Hoffnung darauf, dass daraus dann starke Wohlstandsgewinne resultieren. Die haben sich teilweise auch eingestellt, aber sehr, sehr selektiv. Aber vor allen Dingen – das merkte man dann auch in der Situation des Jahres 2010, wo die Banken relativ leicht mächtige Regierungen wie Präsident Sarkozy oder Frau Merkel erpressen konnten, wo sich ein furchtbares Machtungleichgewicht eingestellt –, und hier wiederum regulieren zu können, Investoren, die Risiken eingegangen sind, auch zu zwingen, diese Risiken dann auch – oder die Verluste, die daraus resultieren können – tatsächlich auch zu erleiden, wenn sie eintreten ...
Dietrich: Nicht nur die Gewinne mitzunehmen.
Kaiser: Exakt. Das ist genau das, was im Moment fehlt, und das ist das, worauf das Konzept eines Staateninsolvenzverfahrens abzielt: Lass das Kapital investieren, lass es seine Chancen suchen – das ist tatsächlich ein Prozess, der zu großem Wohlstandsgewinn geführt hat. Aber sich an den Staat zu wenden, in dem Moment, wo die Dinge schiefgehen – oder beziehungsweise in diesem Fall war der Staat zur Stelle, bevor das Kapital überhaupt laut genug schreien konnte –, das ist etwas, was dann die Lasten tatsächlich auf die Bevölkerung abwälzt und was wir so nicht länger zulassen dürfen.
Dietrich: Neue Perspektiven für Griechenland? Ich sprach mit Jürgen Kaiser, Koordinator des Entschuldungsbündnisses erlassjahr.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.