Kampf für klimaneutrales Europa
16:02 Minuten
Erstmals seit Langem regiert in Finnland wieder eine linke Mehrheit mit grünem Anstrich. Den EU-Ratsvorsitz will man dazu nutzen, auch die EU bei der Nachhaltigkeit voranzubringen. Und Vorreiter in der Umweltpolitik ist nicht nur Helsinki.
Zwei Rapperinnen, die wie Zombies über die Bühne fegen – derb und provokant: Das ist ganz nach dem Geschmack von Susanna Hulkonen. Helsinki, die finnische Hauptstadt, Samstagabend. Die Pressesprecherin von Flow, Finnlands größtem Musikfestival, strahlt. Rap mag sie. Dass ihr Festival einen grünen Anstrich hat auch.
"Being environmentally friendly is one of your strongest values."
Umweltschutz ist großes Thema bei Flow.
"Am wichtigsten ist: Wir kompensieren alle unsere Emissionen. Dadurch ist das Festival so gut wie klimaneutral. Doch das reicht uns nicht. Deshalb nutzen wir seit ein paar Jahren nur noch grüne Energie. Und: Wir wollen, dass unsere Besucher noch mehr vegetarische Sachen essen – wegen der besseren CO2-Bilanz."
Batterien aufladen in der Birkenholzhütte
Es sind hektische Tage für Susanna. Die Frau mit der psychedelischen Bluse hat sich in den Presse- und VIP-Bereich gesetzt. In die "Zero Waste Cabin". Die Hütte ist aus Birkenholz – und 100 Prozent klimaneutral. Die 34-Jährige holt tief Luft. Fünf Minuten hier und ihre Batterien sind wieder aufgeladen.
"Festivals können Meinungsmacher sein. Deshalb auch unser Nachhaltigkeits-Programm. Auf Schautafeln und online zeigen wir, wie sich Besucher ökologisch korrekt verhalten können. Unser Festival ist wie eine Dorfgemeinschaft. Alle sind gut drauf. Und entspannt. Das machen wir uns zunutze. Wir klären die Leute eher beiläufig auf. Keiner von uns würde auf die Idee kommen, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und zu sagen: Dein Verhalten ist falsch."
Bei Flow war auch schon Krista Mikkonen. Finnlands Umweltministerin lacht. Schon etwas länger her. Seit Juni hat die Grüne in der Aleksanterinkatu 7 das Sagen. Seit dem Sieg des Mitte-links-Bündnisses bei der Parlamentswahl im Frühling. Die 47-Jährige hat sich viel vorgenommen. Zusammen mit Ministerpräsident Antti Rinne, einem Sozialdemokraten, will sie Finnland "zum grünsten Staat der Welt machen". Bis 2035 soll das Land der Seen und Wälder klimaneutral werden, bis 2029 keine Kohle mehr verbrennen.
"Wir wissen: Der Klimawandel ist die größte Herausforderung unserer Zeit. Wir müssen handeln, die EU muss handeln. Vorbild sein. Als erstes muss es die EU schaffen, bis 2050 klimaneutral zu werden. Da hapert es noch. Ich werde alles tun, damit wir das während der finnischen EU-Ratspräsidentschaft hinbekommen, wir alle EU-Länder mit ins Boot holen. Auch die Polen und Tschechen. Nur so erreichen wir das 2050-Ziel."
Leitungswasser statt Plastikflaschen für die EU-Minister
"Ein nachhaltiges Europa, eine nachhaltige Zukunft": So lautet seit Juli der Slogan der finnischen EU-Ratspräsidentschaft. Nachhaltig: Für Finnlands Umweltministerin bedeutet das: Nachhaltige Gesetze verabschieden. Und nachhaltig handeln. Also: Kein Mineralwasser mehr in Plastikflaschen bei den EU-Ministertreffen in Helsinki, sondern: Leitungswasser. Reisen nur, wenn unbedingt nötig. Eine halbe Million Euro will die finnische Regierung bis Ende des Jahres für Klimaprojekte in Afrika und Südamerika ausgeben, um die 18.000 Tonnen CO2 auszugleichen, die während der finnischen EU-Ratspräsidentschaft durch die Reiserei anfallen.
Die blonde Frau mit der schwarzen Lederjacke grinst. Das mit dem Leitungswasser fanden ein, zwei EU-Amtskollegen anfangs "gewöhnungsbedürftig". Bis sie ihnen erklärte: Finnisches Wasser ist sauber. Verhältnismäßig sauber ist auch der Energie-Mix: Der Anteil der Erneuerbaren liegt bei 41 Prozent, nur Schweden hat in der EU eine höhere Quote. Doch ein Öko-Musterknabe ist auch Finnland nicht, das muss man der Grünen nicht zwei Mal sagen.
"Was beunruhigend ist: Die CO2-Speicher in unseren Wäldern sind seit 2010 geschrumpft. Wir müssen diesen Trend stoppen. Nicht erst in ein paar Jahrzehnten, sondern sofort. Das ist ein heikles Thema: Wegen der Forstindustrie. Aber unsere Wälder sind zu wichtig. Sie binden ja nicht nur CO2, sie sind auch Garant für die Artenvielfalt. Wir müssen sicherstellen, dass die verschiedenen Baumarten und Spezies überleben können."
77 Millionen Kubikmeter Holz wurden letztes Jahr in Finnland abgeholzt – so viel wie noch nie, regt sich die Frau aus Ost-Finnland auf. Es ist nicht ihre einzige Sorge.
"Dieses Jahr hat es im Hochsommer in Joensuu, meiner Heimatstadt, wie aus Kübeln gegossen. Innerhalb von zwei Stunden ist so viel Regen gefallen wie normalerweise im ganzen Monat. Solche Wetterextreme: Das gab es früher nicht. Du spürst den Klimawandel an der eigenen Haut. Die Natur spielt verrückt."
Konstatiert die Ministerin, nur um hinzufügen, die Zeit für ein "Ja-aber" in der Klimapolitik sei vorbei. Seit den 90ern mischt die 47-Jährige bei den Grünen mit. Erst auf lokaler, dann auf Bundesebene. Ihren Wurzeln aber ist sie treu geblieben. Ihren Öko-Wurzeln.
"Ich versuche schon seit den 90ern ökologisch zu leben. Ich verbrauche so wenig wie möglich. Ich fahre Rad. Und wenn ich von Joensuu nach Helsinki muss, setze ich mich in den Zug. Das dauert zwar viereinhalb Stunden, aber Autofahren: Das kommt nicht in Frage. Ich kaufe auch so gut wie nichts neu. OK: Für die EU-Ratspräsidentschaft habe ich mir dieses Outfit hier gegönnt. Der Rock ist made in Finnland, die Jacke aus Frankreich. Ich habe darauf geachtet, dass sie aus nachhaltiger Produktion stammen."
Die Forderung nach einem Systemwechsel
Eine Ministerin, die versucht, einen möglichst kleinen ökologischen Fußabdruck zu hinterlassen: "Ist nett gemeint", konstatiert Laura Kolehmainen im Roasberg, ihrem Lieblings-Café in Helsinki: Doch bei weitem nicht ausreichend.
"There has to be a systemic change."
Ein Systemwechsel: Darunter geht bei der jungen Umweltaktivistin nicht. Also: Weg von den fossilen Brennstoffen, nicht erst morgen, sondern sofort. Die 25-Jährige kommt gerade von einem Treffen mit Mitstreitern von "Ilmastoveivi", ihrer Klimakampagne. Eine halbe Million Unterschriften wollen sie sammeln. Damit Ministerpräsident Rinne mehr tut für den Klimaschutz in der EU. Einen Sondergipfel ausruft.
"In Finnland bekommst du immer zu hören: 'Wir sind so ein kleines Land, was können wir schon gegen die Klimaerwärmung tun. Auf uns hört doch niemand.' Unsere EU-Ratspräsidentschaft ist eine Riesenchance. Jetzt kann sich niemand mehr damit herausreden, dass wir kein Gehör finden. Wir können Meinungsführer sein. Und vorgeben, worüber die EU diskutiert. Die finnische Regierung hat die Ratspräsidentschaft von langer Hand geplant. Sie will alles nach Schema F durchziehen. Doch das reicht nicht. Wir kämpfen weiter dafür, dass sie endlich Meinungsführerschaft übernimmt."
Kampagne auf Facebook und Twitter
Laura lässt sich auf die Eckbank am Fenster fallen: Ihren Lieblingsplatz. Erst mal ein Kaffee: Um in Fahrt zu kommen. "Vollzeitaktivistin" sei sie gerade, sprudelt es aus der Jura-Studentin heraus. Und Dauer-online. Über Facebook trommelt sie ihre Leute zusammen. Tauscht sich mit dem finnischen Präsidenten per Twitter aus. Macht und tut.
"Es geht bei unserer Kampagne auch darum, eine Diskussion in Europa einzuleiten. Wir möchten die europäischen Länder an einen Tisch bringen, damit sie auf konstruktive Art diskutieren: Was braucht jeder einzelne Staat, um etwas gegen die Klimakrise zu tun? Meist steht und fällt es mit dem Geld. Besonders bei den osteuropäischen Ländern. Zur Not müssen die anderen EU-Länder ihnen unter die Arme greifen. Der Klimawandel ist ein globales Phänomen. Wenn es die EU-Länder untereinander nicht hinbekommen sich im Kampf gegen den Klimawandel gegenseitig zu helfen und beispielsweise Polen dabei unterstützen, aus der Kohleproduktion auszusteigen: Wie können wir dann vom Rest der Welt erwarten, dass sie das Problem in den Griff bekommen?"
Im November, hat Laura gehört, will Ministerpräsident Rinne die EU-Staats- und Regierungschefs nach Helsinki einladen: Zu einem inoffiziellen Klimagipfel. Amtlich ist das noch nicht. Die Aktivistin verzieht das Gesicht: Ihr ist das zu zögerlich, zu vorsichtig. Sie will weiter Druck machen. Auch auf die Gefahr hin, dass sie die Uni im nächsten Semester wieder nur von außen sieht.
"Wenn ich mich selbst ernst nehme und den Leuten sage: Wir haben nur noch ganz wenig Zeit, um etwas gegen den Klimawandel zu tun: Dann kann ich doch zurück an die Uni. Wir haben schon so viele Leute überzeugt. Selbst die Regierung hört auf uns. Wir stehen für die neue, junge Generation. Und ausgerechnet jetzt soll ich zurück in den Hörsaal?! Meinen Mund halten?! Wobei ich schon zugeben muss: Richtig wohl ist mir nicht bei dem Gedanken mein Studium zu vernachlässigen und kein Geld mehr zu verdienen."
Klimaschutz auch in der Provinz
Klimaschutz schreiben sie auch in der finnischen Provinz groß. Allen voran in Ii, Finnlands inoffizieller grüner Hauptstadt rund 640 Kilometer nördlich von Helsinki.
Ein Mini-Roboter. Mit Solarzellen betrieben. Der sich um die eigene Achse dreht: Johannes kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Mittwochvormittag, das kommunale Entwicklungsunternehmen Micropolis der 10.000-Einwohner-Gemeinde. Bei Micropolis tüfteln sie an der Stadt von morgen. Draußen verscheucht die Sonne gerade die letzten Regenwolken, doch dafür hat der 14-Jährige Schlacks keinen Blick, genau wie seine rund 20 Mitschüler. Dass die Umweltprojektwoche so spannend sein könnte, hätte er nicht gedacht.
"Ich recycle. Aber ehrlich gesagt nicht super viel. Der Vortrag war interessant. Der Roboter natürlich auch. Ich habe einiges gelernt. Über Nachhaltigkeit und so. Vielleicht sollte ich doch versuchen mehr für die Umwelt zu tun."
"I always try to encourage people to: Try, try, try."
Europa hat keine Ausrede
Probieren geht über Studieren: Leena Vuotovesi, die Chefin von Micropolis, schaut Johannes zufrieden an.
"If the small Ii can do it, then Europe has no excuse."
Wenn das kleine Ii die Energiewende schafft, dann hat Europa keine Ausrede fürs Nichtstun: Um einen griffigen Spruch ist die 37-Jährige nie verlegen. Wie auf Kommando rattert die Powerfrau die Eckdaten von Iis Erfolgsgeschichte herunter: Höchste Dichte an Elektro-Auto-Ladegeräten pro Kopf im ganzen Land. Die CO2-Emissionen: Wurden innerhalb von acht Jahren um 52 Prozent gesenkt – auch das Rekord. Und Anlass für die Europäische Kommission, die Gemeinde 2017 mit dem "EU-Klimapreis" auszuzeichnen. Steuereinnahmen durch die mehr als 50 Windräder an der Ostsee: 1,2 Millionen Euro im Jahr. Plus 40 neu geschaffene Jobs. Und das soll erst der Anfang sein. Leena zeigt in ihrem minimalistischen Büro auf ihr Tablet: Da, das Dokument, das ist der neue ökologische Masterplan.
"Unsere neue Strategie macht konkrete Vorgaben. Egal was die Kommune tut: Es muss nachhaltig sein. Das betrifft die Müllabfuhr genauso wie unsere Schulen. Jede Abteilung hat einen eigenen Topf für Klimaprojekte. Sie setzen sich eigene Klimaziele. Kalkulieren: Wie viel kostet es? Können wir dadurch Gewinn machen? Am Ende des Jahres zieht jede Abteilung Bilanz: 'Das und das haben wir für den Klimaschutz getan. In dem Bereich haben wir unsere Ziele erreicht, hier weniger.' Nachhaltigkeit ist Teil unseres Haushalts."
Aus zwölf Leuten besteht Leenas Team. Energie-Ingenieurinnen sind darunter, Techniker, Quereinsteiger.
Wenn jemand eine zündende Idee hat, läutet die Schiffsglocke: Auch darauf ist Leenas gekommen. Die Vielgereiste. In Deutschland hat sie schon gelebt, in Namibia, doch jedes Mal wurde das Heimweh irgendwann zu groß. Nach dem Knistern des brechenden Eises im Winter. Den nicht Ende wollenden Sommertagen. Weg aus Ii? Aus der Provinz? Leenas Augen funkeln: Auf keinen Fall. Erst recht nicht, wo ihre neueste Idee, die Sache mit der Kreislaufwirtschaft, so gut angelaufen ist.
"Ein Unternehmen aus Ii hat gerade 15 Tonnen Silikon, die es nicht mehr braucht. Früher hätten sie das einfach weggeschmissen. Jetzt schauen wir, ob es nicht ein anderes Unternehmen bei uns gibt, das etwas mit dem Silikon anfangen kann. Das ist nicht nur gut für die Umwelt, es schafft auch Arbeitsplätze. Durch diese Kreislaufwirtschaft sind schon 35 Jobs entstanden. Wir sehen den Klimaschutz als Chance. Er ist gut fürs Geschäft und Jobs. Das ist die Hauptsache."
Vegetarisches statt Fleischtheke
"Klimaschutz ist nichts Negatives, sondern etwas Positives. Das versuche ich immer rüber zu bringen. Besonders, wenn ich als Bürgermeister mit Ratsmitgliedern oder Politikern aus Helsinki rede, um sie zu überzeugen, Geld für Investitionen in den Klimaschutz locker zu machen. Meine Kommune versucht so nachhaltig wie möglich zu handeln. Wir verwenden in unseren öffentlichen Gebäuden deshalb auch kein Rohöl mehr."
Zwei, drei Mal die Woche schaut Bürgermeister Ari Alatossava mit seinem Elektro-Dienstwagen bei Micropolis vorbei. Meist um mit Leena zu sprechen. Und weil das Essen in der Kantine leckerer ist als im Rathaus, meint der Parteilose lachend, ehe er sich einen Teller schnappt: Risotto mit Gemüse und Schalentieren. Fleisch isst er nur noch selten.
"Das habe ich meiner jüngsten Tochter zu verdanken. Sie ist 18 und wohnt noch bei uns. Mit 14 hat sie beschlossen: Ich werde Vegetarierin. Und wir alle: Muss das sein?! Aber was soll ich sagen: Inzwischen essen meine Frau und ich auch kaum noch Fleisch. Erst letztens im Supermarkt ist mir aufgefallen: Früher habe ich immer als erstes die Fleischtheke angesteuert. Jetzt schaue ich zuerst, was für vegetarische Sachen da sind."
Es ist Nachmittag geworden, Alatossava einmal quer durch die Stadt gefahren, zum alten Hafen mit den roten Holzhäusern. Er bleibt vor dem Kulturzentrum stehen. Kommen gut voran, die Aufbauarbeiten. Morgen startet das große Klimafestival. Mit 5000 Teilnehmern: Wissenschaftlern, Umweltaktivisten, allen Parteivorsitzenden aus Helsinki. Der von den Rechtspopulisten hat als erster zugesagt. Ausgerechnet! Der Bürgermeister lächelt. Früher hat die Finnen-Partei den Klimawandel noch geleugnet. Doch die Zeiten: Sie haben sich geändert. In Ii, der ökologischer Musterstadt. Und in ganz Finnland.