Bedingt verteidigungsbereit?
Nur jeder dritte Finne kann sich eine Nato-Mitgliedschaft vorstellen. Aber seit der Annexion der Krim durch das Nachbarland Russland sorgen sich die Bürger um die Bereitschaft der finnischen Armee. In diesem Jahre soll erstmals wieder mehr Geld in den Verteidigungshaushalt fließen.
Der kleine Grenzverkehr – in Nuijamaa rollt er weiter reibungslos. Von der neuen Eiszeit zwischen Russland und dem Westen ist im Südosten Finnlands wenig zu spüren. Hauptmann Pasi Nikku kann sich an diesem trüben Donnerstagmorgen ein Lachen nicht verkneifen. Alles ganz harmlos hier. Statt mit irgendwelchen russischen Panzern hat es der stellvertretende Leiter des Grenzübergangs mit einkaufswütigen Tagestouristen aus Sankt Petersburg zu tun.
Pasi Nikku: "Hier bei uns hat sich nichts verändert. Die Zusammenarbeit mit unseren russischen Kollegen funktioniert gut; wirklich einwandfrei. Wir können uns weiter auf sie verlassen. Sie verhindern, dass illegale Einwanderer die Grenze überqueren. Erst vor ein paar Wochen haben sie zwei Syrer geschnappt, die heimlich nach Finnland einreisen wollten. Ich weiß natürlich nicht, was passiert, wenn sich das Verhältnis zwischen Russland und der EU extrem verschlechtert. Aber im Moment ist es wirklich business as usual."
Wie jeden Morgen verschafft sich Pasi Nikku zu Dienstbeginn in der Kommandozentrale im ersten Stock einen Überblick. Er schaut kurz auf den großen Bildschirm, auf dem verschiedene Bereiche der Grenzstation zu sehen sind. Keine besonderen Vorkommnisse. Gemächlich schlendert der durchtrainierte Mittdreißiger zurück in sein Büro, vorbei an der Glasvitrine mit diversen Pokalen und zwei roten Matroschkas – den russischen Spielzeug-Puppen. Ein Geschenk von drüben.
"Russland liegt etwas links. Sehen Sie den Hügel? Das ist noch Finnland, aber der Wald dahinter – das ist schon russisches Gebiet."
Rund 1300 Kilometer lang ist die Grenze zwischen Finnland und Russland, Nuijamaa mit täglich rund 10.000 Übertritten der wichtigste Grenzübergang. Doch es wird weniger. Wegen der Rubel-Krise; den Sanktionen. Pasi Nikku blättert in seinen Unterlagen – ehe er fündig wird: Hier: Die neusten Zahlen. Um vierzig Prozent ist das Verkehrsaufkommen im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen.
"Wegen des geringeren Verkehrs können wir jetzt unsere Kontrollen intensivieren. Wir machen vermehrt Stichproben, das heißt die russischen Grenzgänger müssen nicht nur ihren Pass zeigen, sondern auch diverse Fragen beantworten. Hinzu kommt, dass wir wegen der freien Kapazitäten die finnisch-russische Grenze stärker beobachten können. In unserem Grenzabschnitt sind das ungefähr hundert Kilometer. Es gibt mehr Patrouillen, mehr technische Überwachung. Da haben wir jetzt mehr Möglichkeiten."
Der Rubel rollt nicht mehr
Das Leben: Es geht weiter – in Lappeenranta, der nahegelegenen Universitätsstadt. Es muss. Irgendwie. Mirka Rahman stöhnt leise. Die Marketingfrau der 72.000-Einwohner-Gemeinde kommt gerade von einem Abstecher im "Galleria-Einkaufszentrum" zurück. Wie die Geschäfte so laufen – wollte sie wissen. Die quirlige Mittvierzigerin senkt den Daumen. Schlecht laufen sie. Für Mirka ist das nichts Neues: Letztes Jahr kamen nur noch 1,6 Millionen russische Touristen nach Lappeenranta, 400.000 weniger als 2013. Macht: Allein bei den steuerfreien Einkäufen ein Minus von 23 Prozent. Sie verdreht die Augen. Alles wegen der großen Politik; den Ängsten, die viele Politiker neuerdings befallen haben - vorzugsweise in der Hauptstadt, dem rund 220 Kilometer entfernten Helsinki.
Mirka Rahman: "Mir kommt es so vor: Je weiter die Leute entfernt sind, desto mehr Angst haben sie vor allen möglichen. Lappeenranta ist immer schon Grenzstadt gewesen, seit der Gründung 1649. Wir sind immer über die Runden gekommen. Deshalb: Ja natürlich haben wir weiter Kontakt zu den Russen. Und nein: Selbst jetzt haben wir keine Angst vor ihnen. Ich jedenfalls nicht. Ich sitze wirklich nicht jeden Abend am Küchentisch und frage mich alle zwei Minuten: Was stellen die Russen bloß als nächstes an?"
Mehrmals im Jahr ist Mirka Rahman in Russland um für Lappeenranta zu werben - meist im gut zweihundert Kilometer entfernten Sankt Petersburg. Bis vor kurzem hat sie bei Präsentationen noch Englisch geredet, doch das hat sie sich abgewöhnt. Jetzt spricht sie lieber Finnisch und hat einen Russisch-Dolmetscher dabei. Die Werbefrau zuckt die Schultern. Der Rubel soll schließlich weiter rollen. Deshalb: Keine Provokationen; und erst recht keine Gedankenspiele, die traditionelle Neutralität Finnlands in Frage zu stellen.
"Ich finde, es ist besser, Finnland bleibt neutral. Wenn wir Nato-Mitglied wären, würde das doch nur zu mehr Spannungen führen, besonders hier an der Grenze. Mir ist das Finnland meiner Kindheit lieber: Unabhängig und blockfrei. Irgendwelche Militärbündnisse lösen keine Konflikte in der heutigen Zeit. Das schafft nur Diplomatie."
Nato: Nein Danke! So wie die Frau aus Südkarelien denken die meisten Finnen, mögen russische Kampfjets, wie im vergangenen Sommer fast schon im Wochentakt, auch noch so oft in den finnischen Luftraum eindringen. Nur jeder dritte kann sich eine Nato-Mitglied-schaft vorstellen. Natürlich kennt auch Patrik Gayer die Zahlen. Doch die rechte Hand von Verteidigungsminister Carl Haglund sieht das relativ. Ein Drittel – meint der alerte Berater im wuchtigen Verteidigungsministerium von Helsinki – ein Drittel sei zwar keine Mehrheit, aber zumindest besser als die zwanzig Prozent Zustimmung letztes Jahr.
Patrik Gayer: "Bei der Debatte über einen möglichen Nato-Beitritt standen bislang weniger strategi-sche oder militärische Erwägungen im Vordergrund sondern emotionale. Viele Finnen sind gegen die Nato, weil sie gegen die USA sind. Die meisten wissen nur wenig über die Nato. Man muss den Leuten erklären: Die Nato trifft Entscheidungen einstimmig. Wenn Finnland während des Irak-Kriegs Nato-Mitglied gewesen wäre, hätte es nicht zwangsweise mit-kämpfen müssen. Aber langsam tut sich was. Mehr und mehr Finnen sehen in der Nato eine europäische Sicherheits-Gemeinschaft – und keine US-amerikanische."
Gemeinsame Manöver und Waffensysteme mit Schweden
Gayer ist pro-Nato. Pro-Nato und Realist – schiebt der Anfang Dreißigjährige im maßgeschneiderten dunkelblauen Anzug hinterher. Will heißen: Eine politische Mehrheit für eine Nato-Mitgliedschaft ist nicht in Sicht. Im gerade zu Ende gehenden Wahlkampf hat sich nur die Nationale Sammlungspartei von Ministerpräsident Stubb als Nato-Befürworter geoutet. Alle anderen Parteien aber: Sind entweder wie die Sozialdemokraten ganz da-gegen. Oder gespalten wie die Grünen. Egal wie die neue Regierung auch aussehen wird: An seiner Neutralität wird Finnland nicht rütteln – und lieber die Zusammenarbeit mit seinem Nachbarn im Westen intensivieren, den Schweden.
Gemeinsame Manöver, gemeinsame Waffensysteme – das gibt es schon. Jetzt soll bis spätestens 2023 auch noch eine gemeinsame Marineeinheit geschaffen werden - zum Missfallen von Russlands Führung. So gab Sergei Markov, der Berater des russischen Präsidenten Putin, zu Protokoll, die beiden Länder sollten bloß nicht auch noch auf die Idee kommen, aufgrund von "Russenphobie" der Nato beizutreten. Das kam nicht gut an – weder in Stockholm noch in Helsinki.
"Die Vorfälle in der Ukraine haben uns aus dem Schlaf gerüttelt. Wir sollten uns nichts vormachen. Wir werden nicht umhinkommen, nach der Parlamentswahl den Verteidigungshaushalt zu erhöhen. Wegen der veränderten Sicherheitslage. Da sind sich fast alle Parteien einig. Im letzten Oktober hat eine Kommission neue Richtlinien zur Verteidigungspolitik erarbeitet. Das hat im Parlament großen Zuspruch gefunden: Sieben der acht Fraktionen sind dafür, den Verteidigungshaushalt bis 2020 um jährlich 150 bis 200 Millionen Euro zu erhöhen. Wir im Verteidigungsministerium begrüßen das sehr. Es war wirklich notwendig."
Knapp 2,7 Milliarden Euro stehen dem Verteidigungsministerium dieses Jahr zur Verfügung. Patrik Gayer schüttelt den Kopf. Viel zu wenig. Und eindeutig das falsche Signal - genau wie die Pläne, in den nächsten Jahren 2100 Armee-Stellen zu streichen. Umso wichtiger, dass jetzt gegengesteuert wird. Seine Heimat nur bedingt verteidigungsbereit: Für einen Falken wie Gayer eine Horrorvorstellung. Er müsse nur jeden Morgen durch den Eingangsbereich seines Dienstsitzes laufen – dann wisse er, was auf dem Spiel stehe. Meint der Reservist der finnischen Armee. Dort unten hängen sie – die Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg, vom Bombenangriff sowjetischer Tiefflieger auf das Ministerium, in dem damals das Oberkommando der finnischen Heeresführung saß.
"Es gibt bei uns eine große Bereitschaft, das Land zu verteidigen. Es ist Teil von Sisu, dieser typisch finnischen Eigenschaft, auch in schier aussichtsloser Situation weiter zu kämpfen. Es ist Teil unserer Identität – auch meiner. Meine beiden Großväter haben im Zweiten Weltkrieg gegen die Rote Armee gekämpft, mein Großvater mütterlicherseits war zu Kriegsbeginn erst 17. Sie haben mir viel vom Krieg erzählt. Die Erinnerung daran ist immer noch wach. Für mich war klar: Wenn ich meinen Wehrdienst ableiste – dann mit Auszeichnung. Es war eine Frage der Ehre. Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als der Vater meiner Mutter mich in Uniform sah: Er hatte Tränen in den Augen."
Eine Uniform hat Teija Tiilikainen noch nie getragen – auch wenn Frauen schon seit längerem zur Armee gehen können. Verteidigungsexpertin ist sie auch so – beim "Finnischen Institut für internationale Beziehungen" unten am alten Hafen. Viel zentraler geht es nicht.
Russland ist nicht mehr die Sowjetunion
Es sind kurze Wege für die Institutsdirektorin. Wenn sie schnell rüber muss ins Außen-ministerium, zum Briefing. Oder in der Mittagspause den Fährschiffen aus Estland und Schweden beim Andocken zusieht. Russische Boote legen keine an. Präsent ist der große Nachbar auch so. Tiilikainen geht zum Fenster ihres Büros und zeigt nach links: Hinter den Backsteinhäusern, nur einen Steinwurf entfernt, steht die Uspensi-Kathedrale, das größte russisch-orthodoxe Sakralgebäude der westlichen Welt. Es stammt aus dem 19. Jahrhundert, als Finnland Teil Russlands war. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Finn-land zwar unabhängig, die Beziehung zum großen Nachbarn aber blieb für die fünfeinhalb Millionen Finnen weiter ein großes Thema.
Teija Tiilikainen: "Die geopolitische Lage Finnlands hat bei uns immer eine Rolle gespielt. Nicht nur zu Zeiten des Kalten Krieges, sondern auch danach. Wir haben einen anderen Weg eingeschlagen als unsere skandinavischen Nachbarn. Uns war klar: Wir werden unser Verteidigungssystem nicht radikal verändern – und beispielsweise die Wehrpflicht abschaffen. Das wird in Finnland nicht passieren. Wegen unserer langen Grenze zu Russland; der Instabilität dort. Da waren sich fast alle einig. Deshalb hat Finnland seine Verteidigungsstrukturen und -politik seit dem Ende des Kalten Krieges auch viel langsamer und vorsichtiger reformiert als andere."
Russland als Nachbar – so hieß Anfang des Jahres ein Symposium des Finnischen Instituts für Internationale Beziehungen. Der Nachbar ist unberechenbarer geworden. Soviel steht für Teija Tiilikainen fest. Einen russischen Mitarbeiter hat sie noch, die anderen sind wieder zurück nach Russland gegangen. Wegen der Sanktionen, mit denen sich die Europäische Union und Russland gegenseitig das Leben schwer machen. Finnland trägt die EU-Sanktionen mit – auch wenn kein anderes EU-Land wirtschaftlich so eng mit Russland verflochten ist – und so sehr unter dem wirtschaftlichen Fallout leidet. Symptomatisch dafür ist der "Putin-Käse", finnischer Käse, der eigentlich für den russischen Markt bestimmt war, und der wegen der Sanktionen in den Supermärkten zwischen Helsinki und Lappeenranta zu Spottpreisen verramscht werden musste. Der neue kalte Krieg – er hat das Leben in Finnland nicht leichter gemacht.
"Ich wäre da sehr vorsichtig mit dem Begriff. Kalter Krieg. Das war doch eine sehr spezielle historische Situation; allein schon wegen der zwei Machtblöcke, die da aufeinander prallten. Kalter Krieg?! Nein, den haben wir noch nicht – auch wenn die geopolitische Lage komplizierter geworden ist. Aber: Das aktuelle Russland ist nicht die Sowjetunion."