Die Erstausstrahlung der Sendung war am 28. Juni 2020.
Wir straffen das!
24:01 Minuten
Macht Fitnesstraining Menschen fit? Oder krank? Die Dosis macht das Gift, sagen Experten. Anja Schrum hat sich umgehört, und Fitnessfreaks, eine Ernährungsexpertin, einen Autor und eine Trainerin mit einem neuen Konzept getroffen.
Anfang Februar 2020 in Hannover. Die Messehalle gleicht einem Fitnessstudio in XXL. Acht riesige "Workout-Stationen" sind über die Halle verteilt: 40 Athletinnen schwitzen gleichzeitig an Ski-Ergometern. Nebenan, am sogenannten "Sled push", schieben Sportlerinnen mühsam 75 Kilogramm schwere Metallschlitten über eine stumpfe Bahn. 25 Meter hin und wieder zurück, angefeuert von Freunden und Bekannten.
Weit mehr als 1000 Athletinnen und Athleten gehen an diesem Februarsamstag bei "Hyrox" an den Start. Laut Eigenwerbung ist der Wettbewerb das "1. Competition Eventformat im Fitnessmarkt". Teil nehmen vor allem Freizeitsportler und -sportlerinnen, die viel Zeit in ihr Training investieren. Sonst wären die acht kräftezehrenden Workout-Stationen plus der Ein-Kilometer-Lauf zwischen jeder einzelnen Station nicht zu schaffen.
Medizinbälle gegen den inneren Schweinehund
"Crossfit betreibe ich drei Mal die Woche in der Box", erzählt eine junge Frau im eng anliegenden Sportdress. "Die restliche Woche fülle ich auf mit Laufen. Und im Fitnessstudio noch ein bisschen Ergänzungssport im Studio, so wie es die Zeit hergibt."
Die Fitness-Sportart Crossfit hat viel Zulauf. Weil gleichzeitig Ausdauer, Kraft und Beweglichkeit geschult werden. Und weil nicht stumpfsinnig an Maschinen trainiert wird, sondern mit dem eigenen Körpergewicht und in kleinen Gruppen. Trotzdem arbeitet man intensiv – an sich selbst. So jedenfalls beschreibt es eine andere Athletin:
"Man wird immer wieder aufs Neue herausgefordert, ich liebe es einfach, an meine körperliche Leistungsgrenze zu gehen. Und der Körper hat halt unheimlich große Entwicklungsfortschritte, man hat immer was, wo man wieder besser drin werden kann und dass hatte ich bisher in keinem Sport, dass ich da so drin aufgegangen bin, immer wieder weiter an mir zu arbeiten."
Eine junge Frau im Flecktarn der Bundeswehr lehnt an der Hallenbrüstung und blickt auf das Gewusel an den acht Workout-Stationen. Ganz hinten, in der Ecke, kurz vor dem Ziel, das sei die härteste Station, sagt sie: "Und am Schluss die Hölle sind immer noch die Wallballs, weil man da eigentlich komplett fertig ist, und dann muss man noch mal 100 Kniebeugen machen mit Gewicht und dann noch nach oben werfen."
Eine Art Medizinball aus der Kniebeuge heraus nach oben gegen eine Platte werfen, auffangen und wieder runter in die Knie – 100 Mal. Das klingt nach Schinderei, nicht nach Spaß. "Klar denkt man sich zwischendurch, oh mein Gott, warum tue ich mir das an, aber das beste und schönste Gefühl ist das Danach. Wenn man‘s geschafft hat und wenn man‘s durchgezogen hat und weiß, wozu der Körper fähig ist."
"Beim Fitness geht es darum, an sich selber zu arbeiten"
Die Fitnessbranche boomt, seit Jahren schon. 2019 waren rund 11,7 Millionen Bundesbürger Mitglied in einem Fitnessstudio, einem Gym, wie es "neudeutsch" heißt, oder einer sogenannten Crossfit-Box. Laut Branchenverband ist "Fitness" damit die mitgliedstärkste Trainingsform – vor Fußball mit etwas über sieben Millionen und Turnen mit fünf Millionen Sportlerinnen und Sportlern.
Doch was treibt die Menschen weg von Hallen und Sportplätzen und rein in die Studios? Darüber hat sich der Erfurter Historiker und bekennende Fitnesssportler Professor Jürgen Martschukat in seinem Buch "Das Zeitalter der Fitness" Gedanken gemacht:
"Bei Fitness geht’s nicht darum, in einem spielerischen Wettbewerb zu gewinnen oder solche Dinge, die eben in dem, was wir als organisierten Sport, als Mannschaftssport kennen, wichtig ist. Bei Fitness geht es darum, an sich selber zu arbeiten und sich auf irgendeine Art auf jeden Fall zu verbessern."
Fitness stehe nicht für die Freude an Bewegung oder Wettkampf, sondern vor allem für den Willen zur Selbstoptimierung. Einerseits gehe es um "die Praxis des an sich selbst Arbeitens", wie Martschukat formuliert, andererseits auch um sichtbare Ergebnisse:
"Das Ergebnis ist dann, einen ästhetisch bestimmten Kriterien gehorchender Körper oder eben zu meinen, in einem bestimmten Alter muss man in der Lage sein, noch eine gute Leistung zu bringen, also eine bestimmte Strecke laufen zu können, so und so viel Kilo auf der Bank drücken zu können, und das kann ich natürlich versuchen durch hartes und beständiges Training an mir selber zu erreichen."
Fitness macht Sportfans zu Heldinnen und Helden
Der Startschuss für den Fitnesshype fiel in den frühen 1970er-Jahren in den USA, als massenhaft mit dem Laufen begonnen wurde, so Martschukat. Bis dahin wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, nach Feierabend noch ein paar Runden zu drehen, um sich etwas Gutes zu tun. 1974, beim ersten Marathon in Berlin, erreichten gerade einmal 234 Männer und zehn Frauen das Ziel. Heute ist der Berlin-Marathon eine der größten Laufveranstaltungen der Welt. 2019 finishten 40.065 Läuferinnen und Läufer – ein neuer Rekord. Auch Martschukat hat die 42,195-Kilometer-Distanz schon hinter sich gebracht:
"Ein Faktor, der da ganz wichtig ist, ist das Gefühl, etwas Einzigartiges zu vollbringen. In einer Welt, in der man relativ wenige feste Regulierungen findet, sondern immer von Flexibilität, Dynamik, Beweglichkeit die Rede ist, erscheint der Körper häufig auch als so etwas wie der letzte Ort, der mir eine bestimmte Erfahrung verspricht, für die ich selber verantwortlich sein kann, an der ich selber arbeiten kann. Damit einher geht das Versprechen, dass der Körper auch gewissermaßen die Kraft ist, mit der ich eine einzigartige Leistung vollbringen kann."
"Getunt" werden die Körper in hippen Fitnesstempeln, die "Urban Heroes" heißen, "Frontline" oder "Urban Gladiators". In den Parks der Großstädte boomen sogenannte "Bootcamps" – Sport, der nach militärischem Drill klingt. Betont wird der Fight mit dem eigenen Selbst, am Ende der Anstrengungen fühlt man sich als Held oder Heldin:
"Genau darüber funktioniert auch diese Fitnessheroik, dass ich lerne, mit diesen Anforderungen zurecht zu kommen und eben außergewöhnliche Leistungen vollbringe, Grenzen überschreite, Grenzen dehne. Und das ist ja das, was den Helden/die Heldin auszeichnet, und dafür eben auch Opfer zu bringen und das Opfer, was ich als Fitnessheroe erbringe, ist der Schweiß, den ich vergieße, um mich dahin zu bringen, wo ich gerne sein möchte."
Der Heldinnen- und Heldenkörper als Ausdruck von Verzicht und Disziplin, so sieht Martschukat das. Und zwar nicht nur im Studio, sondern auch in Beruf und Privatleben. Die Körperform als Beweis der eigenen Leistungsfähigkeit:
"Fitness heißt auch, erfolgreich im Leben zu sein, in den unterschiedlichsten Bereichen, auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein, sexuell erfolgreich zu sein, stark zu sein, Leistung bringen zu können. Und, tatsächlich auch noch ein ganz wichtiger Punkt, den man nicht vergessen darf: Es steht für so was wie: bei Dingen am Ball bleiben zu können. Und dabei auch vernünftige Entscheidungen zu treffen."
Gesunde Ernährung gehört dazu
Anfang Februar beim Fitnesswettkampf "Hyrox" in Hannover. Viele der Fitnesssportlerinnen und -sportler hier haben auch ihre Ernährung umgestellt, erzählt eine junge Frau: "Ich achte total auf meine Ernährung, das ist natürlich ein Hauptbestandteil für den Erfolg, den man dann letzten Endes erbringen kann. Tracke auch meine Nahrung, so gut es geht."
Eine 38-Jährige wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. Sie hat den Parcours in 80 Minuten absolviert, zehn Minuten schneller als beim letzten Mal. Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper – das habe sie zum Crossfit gebracht:
"Bei mir ist es tatsächlich so, dass ich mal bisschen übergewichtig war und mir gesagt habe: Nee, jetzt gehe ich voll in die Vollen und hab auch meine komplette Ernährung umgestellt. Kein Alkohol, kein Zucker, kein Weizen. Kalorien zählen, Makros zählen."
Makros – damit sind die Makronährstoffe gemeint: Proteine, Kohlenhydrate und Fett. Sie werden nicht gezählt, sondern via App "getrackt", also genau kontrolliert. "Push Dich und Deine Ernährung", lockt auf der Veranstaltung ein Stand mit "Premium Fitness Food".
"Seinen Eiweißbedarf den ganzen Tag hochzuhalten, bedarf halt viel Organisation, dann kann man nicht einfach nur zum Bäcker gehen, weil man dann nur kohlenhydratlastiges Essen bekommt, dann muss man natürlich wirklich schauen, dass man bei jeder Mahlzeit seine 30 Gramm Eiweiß ungefähr zu sich führt."
Fitness als Abbild der eigenen Leistungsfähigkeit
Proteinpulver aus der Plastiktonne für Bodybuilder – das war gestern. Heute gibt es Eiweißdrinks in stylischen Bechern, vakuumgetrocknete Frucht- und Gemüsechips, Brotaufstriche mit viel Protein und wenig Zucker. "The Best Version of Yourself", verspricht die Werbung. Also quasi: Mach das Beste aus dir!
"Wir haben natürlich durch unsere Social-Media-Präsenz, die wir auf Facebook und Instagram haben, schon viele junge Konsumenten auch in dem Bereich", erzählt ein Anbieter. "Auch sehr, sehr viele Frauen, die unseren Produkten vertrauen, weil wir halt weg sind von diesem klassischen Bodybuilding und wirklich mehr diese Lifestyle-Brand haben."
Sich selbst im Griff haben sei ganz wichtig, sagt Jürgen Martschukat: "Sich nicht gehen zu lassen, nicht nach Bier und Chips zu greifen, sondern eben diesen Verlockungen der Konsumgesellschaft widerstehen zu können, von denen es heißt, dass sie eben für mich, meinen Körper und meine Leistungsfähigkeit schlecht sind."
Genau nach dieser Leistungsfähigkeit aber verlangt der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts. Er setzt auf allzeitige Verfügbarkeit und grenzenlose Leistungsbereitschaft. Grenzen austesten, Erwartungen übertreffen – das spiegelt auch der Fitnesshype. Aber – und das sei ganz wichtig, so Martschukat, Fitnesstraining funktioniere wirklich:
"Ich fühle mich ja auch besser, wenn ich halbwegs regelmäßig eine Runde drehen gehe, und es erzeugt ja Zufriedenheit, aber trotzdem ist das eben Teil einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Formation, die erstens vor einem halben Jahrhundert nicht gegeben hat, da wäre ich nicht auf die Idee gekommen, nach einem langen Arbeitstag noch eine Runde Laufen zu gehen, weil man sich dann besser fühlt."
Instagram befeuert die Körpermodifikation
Entspannt im Inneren, gestrafft im Äußern – so ließe sich das Heilsversprechen der Fitnessindustrie in Bezug auf den Körper zusammenfassen. Ob mit Fitnessklassikern wie "Bauch, Beine, Po"-Kursen, die den Mythos vom gezielten Fettabbau bedienen. Oder mit hochintensivem Intervalltraining, das in kürzester Zeit einen Traumkörper verspricht.
"Es geht sehr viel um so etwas wie Körperästhetik", sagt Autor Martschukat. "Und deshalb würde ich Fitnesspraktiken auch immer im Kontext der anderen Praktiken zur Körpermodifikation sehen, also Tätowierungen, Schönheitsoperationen und das ganze Repertoire, was es da gibt, was auch in den letzten Jahren große Konjunktur hat. Und es ist ja kein Zufall, dass es in derselben Zeit so große Konjunktur hat wie Fitness."
Ein wichtiger Antriebsmotor sind heute die sozialen Medien. Bild-dominierte Plattformen wie Instagram etwa, wo knackige Pos und Sixpacks für ein Millionenpublikum in Szene gesetzt werden. Frei nach dem Motto: Wir straffen das!
Sie heißen Anne, Sophia, Pamela oder Alina – und sie haben zwischen einigen Zehntausend und Millionen von Followerinnen und Followern:
"Hallo meine Fitnessfreaks, willkommen zurück auf meinem Channel, ich habe heute für all die was, die entweder Mitte/Ende August oder Anfang September noch in ihren wohlverdienten Sommerurlaub fahren, und zwar ein Last-Minute-Bikini-Body-Workout", verspricht die eine. "Hallo meine Lieben, willkommen zu unserem Buttlifting-Workout, weil, wir wollen ja den Po ein bisschen nach oben drücken", sagt eine andere.
Popstars aus dem Gym
Was früher Popstars oder Models waren, das sind heute Fitness-Influencerinnen. Junge Frauen, aber auch Männer, die uns an ihren sogenannten "Routinen" teilhaben lassen. Sie zeigen, wie sie sich fit halten, was sie essen, welche Produkte sie bevorzugen: "Ich zeig euch mal, wenn ihr euch als kleinen Snack mal eben 15 Gramm Protein gönnen wollt – dieses Karamell, dieses Ding schmeckt ultra-bombe…"
Die Influencerinnen kämen als eine Art "beste Freundin" daher und sind doch vielfach nicht mehr als eine Art Dauerwerbesendung. Die vermeintlichen Alltags-Posts sind hochprofessionell durchgestylt und inszeniert. Es geht um Fitnessprodukte, Kosmetika, Sportklamotten – und damit um viel Geld. Ob die Follower das durchschauen, spielt keine Rolle, so Jürgen Martschukat:
"Ich glaube, dass diese Oberflächen mittlerweile das sind, was echt ist oder was als echt gilt. Weil – und das ist dann wie mein Schrittzähler – das auf eine Art dann ja sehr produktiv ist. Und Jugendliche oder Menschen dazu veranlasst, bestimmte Dinge gut zu finden und schlecht zu finden, bestimmte Verhaltensweise gut oder richtig zu finden, bestimmte Dinge haben zu wollen oder sein zu wollen. Das wird ja über Oberflächen getriggert und insofern sind diese Oberflächen ja echt, weil sie sehr wirkungsstark sind."
Manchmal kippt die Lust an der Selbstoptimierung
Wie wirkungsstark und wie gefährlich – das muss auch Martina Hartmann immer wieder erfahren. "Das sind leicht verdauliche, gut aufgebaute Infos, die für Schüler gut zu lesen sind", sagt die Ernährungsberaterin. Sie arbeitet seit 20 Jahren bei "Dick und Dünn", einem Beratungszentrum bei Essstörungen in Berlin-Schöneberg.
"Das Zeitalter der Fitness" sei auch bei ihr angekommen, sagt sie: "Es ist wieder eine deutlich stärkere Hinwendung zu einem gut durchtrainierten Körper, das war in den 80er-Jahren schon mal so eine Phase, das ging wieder weg. Jetzt ist es in erste Linie dünn, aber muskulös." Das seien die gängigen Körpernormen – bei Mädchen, aber auch bei Jungen.
"Jungs können noch so gut durchtrainiert sein, die fühlen sich doch immer noch zu wenig trainiert. Wir hatten auch schon öfter Jungs hier, wo man denkt, wow, Bodybuilder, so ein massiver Körper, aber die trauen sich nicht in die Badehose ins Freibad, weil sie denken, das ist noch nicht gut genug."
"Biggerexie" oder auch "Muskelsucht" nennt die Expertin die sogenannte "Körperwahrnehmungsstörung" unter der besonders Jungen leiden. Bei den Mädchen sind es häufiger "Sport-Anorexie" oder "Sport-Bulimie", Essstörungen kombiniert mit übermäßiger sportlicher Aktivität. Oder "Instarexi", eine Wortschöpfung aus Instagram und Anorexie. Gemeint ist damit die Sucht nach Workout-Selfies, die Mädchen zu immer krasseren Diäten treibt. Schon ganz junge kann es treffen, sagt Hartmann.
"Tatsächlich – unser jüngster Betroffener, der war acht. Und das war ein Junge, der noch mitten in der Nacht – das war jetzt kein solch Bodybuilderjunge, das war aber einer, der sich ganz heftig viel bewegen musste und der mitten in der Nacht seinem Schrittzähler noch gerecht werden musste, das heißt, nachts um zwei noch seine 20.000 Schritte ableisten."
Jungs und der unbemerkte Fitnesswahn
Gerade bei Jungen bleibe der Fitnesswahn häufig lange unbemerkt, sagt Martina Hartmann: "Die Eltern sind darüber sehr froh, weil der Junge vielleicht früher mal ein bisschen moppelig war und sie denken: Jupp, jetzt ist er auf dem richtigen Weg. Wir haben es auch mit einer Elterngeneration zu tun, ich sag mal, Stichwort: Die Marathonväter und so. Das sind oft die Generationen, die für sich selbst gar nicht merken, dass sie da eigentlich schon ein Körperbild oder Leistungsbild transportieren, was bei ihrer Kindergeneration etwas auslösen kann, was definitiv Krankheitswert haben kann."
Leistungsdruck, Diätwahn, aber auch individuelle Auslöser – all das kann in einer Körperwahrnehmungsstörung enden. Hartmann macht vor allem auch den Zugang zu den sozialen Medien dafür verantwortlich, dass immer jüngere bei "Dick und Dünn" um Hilfe suchen.
"Und da sieht man jede Menge aufgeblasene, gefakte Körper. Und das ist das Problem: Je jünger die Jungs und Mädchen sind, desto weniger haben sie eine Idee davon, was da auch Fake ist und was nicht. Da kann man ja auch mit allen möglichen Apps eine ganze Menge machen, dass das alles schlanker wird. Oder man kann Sixpacks reinbasteln, wo gar keine Sixpacks sind. Die Zeiten sind vorbei, wo sich die Jungs ihre Sixpacks aufgeschminkt haben, da gibt es schon viel lässigere Tools."
Der "Fettphobie in der Fitnessindustrie" entgegentreten
Ob bei Instagram, Snapchat oder YouTube – überall finden sich ideale Fitnesskörper, vermeintlich perfekte Gesichter. Eine Bilderflut, die via Smartphone schon auf Kinder und Jugendliche einprasselt. Und die zu Vergleichen führt, die in Verunsicherung münden. Doch es regt sich auch Widerstand.
In Zeiten von Corona sind auch die Kurse von "FemmeFitness" ins Netz umgezogen. Jeden Donnerstag um 19 Uhr beginnt ein Kurs auf "Zoom". Dann spricht Trainerin Anisha Mueller kurz über ein Thema, das sie gerade bewegt. Über die "Fettphobie in der Fitnessindustrie" etwa oder über die Künstler, deren Musik sie während des folgenden Workouts spielen wird…
Ein paar Tage später sitzt Anisha Mueller auf einer Bank neben einem Bolzplatz, gleich um die Ecke ihrer Wohnung. Mueller ist für ihr Studium aus Großbritannien nach Berlin gekommen. Sie schreibt gerade an ihrer Masterarbeit. Schon in England hat sie Fitnesskurse gegeben:
"Ich hab super viel Tanz gemacht, seit ich acht war, glaube ich, und als ich ein bisschen älter geworden bin, hab ich angefangen, einen Fitnessvertrag zu haben, zu diesen Kursen zu gehen und nach ein paar Jahren hat eine Freundin zu mir gesagt: Hey Anisha, du bist fast besser als die Trainer hier – warum machst du das nicht auch?"
Schwitzen soll auch einfach nur Spaß machen dürfen
Anfänglich hat die junge Frau auch in Berliner Fitness-Studios als Trainerin gearbeitet, vor allem Tanzkurse wie Zumba gegeben. Doch je länger sie dabei ist, desto unwohler fühlt sie sich:
"Am meisten stört mich, wie in diesen Studios Körpernormen und Gewichtsreduktion vermarktet werden", sagt Anisha Mueller. "Es werden eine Menge Strategien benutzt, um die Leute zu verunsichern. Und mit dieser Angst lässt sich viel Geld verdienen. Ich würde sagen, Fitness ist heute ein Milliardenmarkt, der von der Unzufriedenheit der Menschen mit sich selbst lebt und Lösungen dafür verspricht."
Das musste auch eine ihrer Freundinnen erfahren, als sie sich in einem Fitnessclub anmeldete: "Die haben diese Person angeguckt und gesagt: Es kann nicht sein, dass du – wie du aussiehst – einfach zu einem Kurs gehen möchtest oder schwitzen möchtest oder Spaß haben willst."
Ihre Freundin musste im Anmeldeformular ankreuzen, welche Ziele sie mit der Mitgliedschaft verfolgte, etwa Gewicht verlieren oder Körper straffen. Einfach nur bewegen und schwitzen – das war nicht genug. Anisha Mueller schüttelt den Kopf. Diese Art von Ergebnisorientierung störte sie auch an den Kursen, die sie selbst in den Studios gab.
"Als Instruktor sage ich: Mach diese Bewegung, um das zu schaffen. Also: Mach diesen Squad, um deinen Po zu tonen. Und diese Sachen – also, ich konnte das nicht sagen, also hab` ich aufgehört, das zu sagen." Doch für einen Kurs nach Anisha Muellers Vorstellungen war in herkömmlichen Studios kein Platz. Deshalb beschloss sie, etwas Eigenes aufzuziehen:
"Und dann habe ich überlegt: Was für ein Raum wäre passend? Und ich habe einen Club gewählt und dadurch habe ich meinen Kurs in einen Club genommen und wir waren fast ein Jahr in "St. Georg", was jetzt geschlossen ist, leider, wo ich geredet hab, wo wir getanzt und geschwitzt und workout gemacht haben."
Spieglein, Spieglein, von der Wand...
Workout in einem Raum ohne Spiegelwände – Anisha Mueller nennt das einen Wendepunkt. Wenn man sich nicht wohlfühle in seinem Körper – warum sollte man ihn dann die ganze Zeit anschauen wollen? fragt Mueller. Sie legt keinen Wert auf die richtige Schrittfolge, die Freude an Bewegung steht im Vordergrund. Im Anschluss an die Kurse darf dann gerne auch diskutiert werden, über Rollenbilder, falsche Schönheitsideale und Körpernormen.
Ob sich Konzepte wie das von FemmeFitness durchsetzen werden, bleibt abzuwarten. Anisha Mueller jedenfalls ist optimistisch. Dank der Online-Kurse hat sie mehr Zulauf denn je.
Für Jürgen Martschukat, der in seinem Buch "Das Zeitalter der Fitness" argumentiert, "Fitness" reiche heute weit über den engen Bereich des "Sports" hinaus und durchdringe alle gesellschaftlichen Bereiche, ist pessimistischer. Der Fitnesstrend werde sich erst umkehren, wenn sich die Gesellschaft als solche ändere.
"Wenn wir uns tatsächlich etwas distanzierter zu den Vorstellungen von Wettbewerb und Erfolg verhalten würden, dann würde sicher auch so etwas wie Fitness sicher weniger relevant werden, weil es dann in der Gesamtgesellschaft etwas weniger um individuelle Optimierung geht."