Flaschensammeln per Mausklick

Guido Fahrendholz im Gespräch mit Dieter Kassel |
Auf einer neuen Internetseite erfahren Flaschensammler, wo sie in ihrer Nachbarschaft Pfand einsammeln können. Guido Fahrendholz vom Obdachlosen-Radio "Straßenfeger" findet diese Idee schlecht umgesetzt. Es werde nicht geprüft, ob die Nutzer wirklich bedürftig sind.
Dieter Kassel: Bei mir im Studio ist jetzt Guido Fahrendholz, er ist Redakteur und Moderator beim "Straßenfeger Radio". Man kennt wahrscheinlich diese Zeitung, den "Straßenfeger" in Berlin, und die machen seit einer Weile schon Radio und inzwischen auch Fernsehen. Schönen guten Tag erst mal!

Guido Fahrendholz: Ebenfalls einen schönen guten Tag!

Kassel: Grundsätzliche Frage: Wie wichtig ist denn das Geld, das man durch die Rückgabe von Pfandflaschen bekommen kann, überhaupt für Obdachlose? Wo steht da diese Einnahmequelle?

Fahrendholz: Grundsätzlich steht sie ziemlich weit oben, weil sie ist die einfachste Art, an Geld zu kommen. Für alle anderen Möglichkeiten muss man sich irgendwie institutieren, man muss einfach zum Beispiel zum "Straßenfeger" kommen und sagen: Ich will eine Zeitung verkaufen … oder auch zur "Motz", oder muss entsprechende Hilfsangebote annehmen. Hier, beim Flaschensammeln, ist man einfach unabhängig in seiner Handlungsfähigkeit.

Kassel: Das heißt, es gibt Leute, die wirklich ausschließlich davon leben?

Fahrendholz: Gibt es definitiv, wobei ich nicht glaube, so wie es hier in dem Beitrag geschildert worden ist, dass das in der Mehrheit Obdachlose sind.

Kassel: Sondern?

Fahrendholz: Wir haben in Berlin und natürlich auch in Deutschland ein generelles Problem der Armut. Die Regelsätze für Hartz VI reichen bei weitem nicht aus, um zum Beispiel alleinerziehende Alleinstehende entsprechend über den Monat zu bringen. Es gibt wahnsinnig viele arme Menschen, die Grundsicherung beantragt haben, oder auch – was ganz irre ist, durch die Schaffung von Hartz VI wurde ja der Niedriglohnsektor aufgebaut – es gibt Menschen, die können von ihrer Arbeit nicht leben, die können ihren Strom nicht bezahlen, ihre Gasrechnung nicht bezahlen, und die gehen dann los, verkaufen Straßenzeitungen oder sammeln Pfandflaschen.

Kassel: Ist für diese ein Projekt wie pfandgeben.de ideal?

Fahrendholz: Ich weiß nicht, ob es ideal ist. Ich finde die Idee, die dahinter steckt, total klasse. Die ist natürlich super. Da gibt es den Einen, der zu faul ist, und den Anderen, der es nötig hat unter Umständen, und dann treffen die sich in der Mitte, das ist okay. In dem Moment, wo man aber eben diese Selektion nicht hat, da holt man dann auch Leute ins Boot, die gar nicht angewiesen sind auf einen solchen Umsatz. Und ja, das finde ich dann nicht mehr wirklich korrekt. Es gibt mittlerweile professionelle Flaschensammler, die wirklich zum Beispiel über die Festival-Zeiten oder auch in Großstädten in den Sommermonaten oder in den wärmeren Monaten das Gehalt fürs ganze Jahr einsammeln. Und die nehmen definitiv den armen Kerlen da draußen eine Einkommensquelle.

Kassel: Wobei das doch strenggenommen kein Problem von pfandgeben.de ist, weil dieses Problem – Sie haben es ja gerade selber beschrieben –, das besteht ja immer. Also mag sich für die professionellen Sammler vielleicht der Müllkasten neben dem Busbahnhof nicht richtig lohnen, aber grundsätzlich kann man die doch eh nicht daran hindern, unterwegs zu sein.

Fahrendholz: Ich bin – oder ich würde das mal ganz anders aufzeigen. Wenn ich vorhabe, so einer Geschichte einen sozialen Touch zu geben oder eine soziale Entwicklung dahinter zu bringen, dann ist das Erste, was stattfinden muss, Kommunikation. Und zwar Kommunikation mit Sozialhilfeeinrichtungen, die genau wissen, wo der Schuh drückt, und wo man mit dem Geld entsprechend helfen kann. Das heißt auch hier in diesem Falle, so schön die Idee ist, ich hätte mir gewünscht, dass die Menschen, die diese Seite betreiben, vielleicht mal vorher zum Beispiel mit der Treberhilfe gesprochen hätten oder eben auch mit Vereinen wie "unter Druck – Kultur von der Straße". Dann hätten sie erfahren, wo wirklich der Schuh drückt und wie man sowas genau selektieren kann.

Die Tatsache, dass jemand, der zum Beispiel auf der Straße lebt – das fand ich eben in dem Beitrag auch sehr schön – und eine goldene Armbanduhr trägt, das kann sein, dass das dem sein letzter Besitz ist, den er noch aus seinem vorhergehenden Leben gerettet hat. Das ist kein Kriterium, darüber zu urteilen, ob der Mensch bedürftig ist, oder nicht. Das heißt, es findet keine Selektion statt. Und egal, wie der Mensch zu den Flaschen kommt: Sinnvoll, wenn man sozial denkt, wäre es, ihm die direkt zukommen zu lassen.

Kassel: Nun hieß es aber auch in dem Beitrag gerade, wenn jemand zuhause sitzt und da kommt jemand Pfandflaschen abholen, der hat eine goldene Uhr, dann ruft er den wahrscheinlich nicht wieder an. Ich meine, das ist nur eine Frage von Vorurteil oder nicht. Daran kann man ja organisatorisch nichts ändern. Ich muss ehrlich zugeben, wenn bei mir jemand zwei Kasten Bier abholt – leere – und hat eine goldene Uhr, das fände ich auch komisch.

Fahrendholz: Ich kann es nur noch mal sagen: Das kann ein Überbleibsel aus seinem vorhergehenden Leben sein. Sie sehen auch wirklich unglaublich viele Menschen, die vermeintlich obdachlos sind und trotzdem ein Handy haben. Dieses Handy ist oftmals überlebensnotwendig. Die haben da gar nicht groß ein Guthaben drauf. Sie haben einfach nur die Möglichkeit, eine Nothilfenummer zu wählen oder irgendeine Sozialeinrichtung anzurufen, wenn irgendwas ist. Insofern ist das Handy zum Beispiel durchaus wichtig, erfüllt einen sehr wichtigen Zweck.

Kassel: Wo wir bei einem anderen Punkt sind, das hatte ich mich gefragt: Es ist so bei dieser Pfandraising-Seite, also bei pfandgeben.de – wir haben die jetzt umgetauft in Pfandraising –, dass man ein Handy braucht. Derjenige, der abholen will, muss sich per SMS erst mal anmelden, und der muss eine Handynummer haben, damit derjenige, der Pfand hat, sich bei ihm melden kann. Da fragt sich vielleicht auch einer, schließt man damit nicht schon Leute aus? Hat denn wirklich jeder Obdachlose ein Mobiltelefon zur Verfügung?

Fahrendholz: Genau das ist der Punkt, das hat nämlich auch nicht jeder, hat nicht die Möglichkeit. Es haben auch nur ganz wenige die Möglichkeit, zum Beispiel überhaupt im Internet sich registrieren zu lassen auf dieser Seite. Möglichkeiten sind da zum Beispiel der Verein Mob e. V. – Mob, Obdachlose machen mobil –, da gibt es einen Internetzugang für Obdachlose. Aber das ist eben nicht die Regel und es wissen auch nicht alle Menschen, und man erreicht sie auch nicht zu jeder Zeit. Und auch ein anderer Punkt, der mir auch ein bisschen aufgestoßen ist, ist ja die Frage: Es wird ja auf der Seite auch damit geworben, Sachspenden entgegenzunehmen; also ganz speziell hier in dem Falle Handys und SIM-Karten. Ich würde mir mal Gedanken darüber machen, ob das nicht auch vom Datenschutz her nicht unrelevant ist.

Kassel: Wir reden gerade im Deutschlandradio Kultur mit Guido Fahrendholz vom "Straßenfeger"-Radio in Berlin über das Projekt pfandgeben.de. Da kann man im Internet, wenn man ein paar Pfandflaschen im Keller hat oder von einer Party übrig, sich anmelden und Obdachlose, so sie Handyzugang haben, können sich auf der anderen Seite anmelden und dann den Pfand abholen. Sie haben so ganz nebenher, Herr Fahrendholz, vorhin gesagt, wenn man sich da so einen sozialen Anstrich geben will, dann hätte man auch … . Heißt das ungefähr, dieses Projekt pfandgeben.de ist für Sie überhaupt kein soziales Projekt?

Fahrendholz: Ist es definitiv nicht, und ich will das mal an einem Beispiel erläutern, wo man das vielleicht ganz klar sieht: Es gibt in Berlin mehrere Handwerksbetriebe im Nahrungsmittelbereich, die jeden Tag eine Überproduktion erwirtschaften, durchaus geplant von denen, die den Bedarf der Region, in dem sie sich bewegen, gar nicht entspricht; sie haben eine Überproduktion. Jetzt könnte so ein Bäcker oder so ein Fleischer dieses Brot nehmen oder das Fleisch und am Ende eines Arbeitstages vorne vor seinem Schaufenster aufstellen, und dann würden sich die Leute bedienen. Da trifft man natürlich auch die, die arm sind, die das wollen. Aber man nimmt auch die Menschen mit, die zum Beispiel einfach nur Geld sparen wollen, oder zu faul sind oder wie auch immer. Das heißt: Das ist nicht sozial! Das wissen diese Fleischer und Bäcker, und deshalb haben die Verbindung gesucht zum Beispiel zu den Berliner Tafeln oder zu Obdachlosennothilfeeinrichtungen, und bringen dann dort die überschüssige Ware – und übrigens jeden Tag! – dorthin, damit dort Bedürftigen ganz gezielt geholfen wird. Und dann ist das ein soziales Projekt! Und genau so sehe ich das hier auch mit dem pfandgeben.de.

Kassel: Aber haben wir nicht diesen Interessenskonflikt? Ich habe schon verstanden, warum Sie sich mehr Kontrolle wünschen und einfach eine – ich nenne das mal so – Bedürftigkeitsprüfung. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite, so wie das jetzt gemacht wird mit diesem pfandgeben.de, ist es einfach sehr viel simpler. Wäre es nicht auch so, wenn die jetzt sagen würden, du kannst nicht, wie es im Moment ist, als Obdachloser einfach eine SMS schicken, dann kommst du auf die Liste und die Leute rufen dich an oder nicht, sondern du musst erst mal zu uns – wer auch immer dann uns ist – und da musst du nachweisen, bedürftig zu sein, und dann darfst du mitmachen? Das würde doch sicherlich den einen oder anderen aus Stolz oder weil er darauf einfach keine Lust hat, auch wieder abschrecken!

Fahrendholz: Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Hilfe hat nichts mit simpel zu tun. Hilfe muss geleistet werden da, wo sie stattfindet. Und wenn dazu eben auch mal ein etwas schwierigerer Weg notwendig ist, dann muss eben auch der gegangen werden. Denn wenn ich vorhabe zu helfen, dann ist das ja schon mal ein hehres Ziel. Alles andere spielt dabei keine Geige. Jeder muss für sich selbst entscheiden, wie er dieses Problem löst. Eine Möglichkeit wäre ja auch gewesen, zum Beispiel die Pfandflaschen wegzubringen und die Beträge Sozialeinrichtungen zu spenden, wo dann direkt diese Gelder den Bedürftigen – und ich betone noch mal: Bedürftig ist nicht nur obdachlos, obdachlos ist definitiv die letzte Stufe der Armut! Es geht um Bedürftigkeit, und die fängt wirklich schon beim Hartz-VI-Empfänger, beim Sozialhilfeempfänger an, und die brauchen das Geld!

Kassel: Aber es wäre immer, egal, wie man es sonst macht, komplizierter! Auch das, was sie gerade gesagt haben: Wenn die Jungs, die sich diese Seite ausgedacht haben – Entschuldigung, wenn jetzt auch ein Mädel dabei war, weiß ich jetzt nicht –, wenn die irgendwie jetzt … dann brauchen sie ein Fahrzeug, das die Pfandflaschen transportiert, und wenn die das transportieren, dann reden wir ja nicht nur über drei, vier Stück. Wir reden ja über mehr, sie müssen das organisieren, wahrscheinlich ist das dann schon wieder Gewerbe, dann brauchen sie entweder den Nachweis der Gemeinnützigkeit oder einen Gewerbeschein, dann hätte wahrscheinlich jeder dieser Jungs gesagt: Gott, nein, dann mache ich es doch nicht! Ist es nicht auch ein Vorteil, auch wenn man dann manche Sachen vernachlässigt, dass das einfach ein sehr simples Prinzip ist?

Fahrendholz: Nein, das ist definitiv nicht der Vorteil! Der Vorteil wäre gewesen, sich mit einer sozialen Einrichtung wie beispielsweise in den Berliner Tafeln zusammen zu tun und zu sagen: Hey, wir haben da eine Idee, wie wir euer Projekt noch unterstützen können und zusätzlich dafür sorgen können, dass Geld in die Kassen kommt. Ihr seid ja mit den Fahrzeugen sowieso unterwegs in der Stadt, sammelt doch nebenbei noch Flaschen ein! Das kann man kommunizieren. Ich will ja nicht mal verteufeln diese Seite, ich will gar nicht sagen, dass die schlecht ist, ich finde die Idee wirklich sehr, sehr gut und sehr schön! Was ich, ja, nicht so toll finde, ist, dass man nicht vorher kommuniziert hat, dass man nicht mit Sozialeinrichtungen gesprochen hat und nach einem Weg gesucht hat, der vielleicht nicht ganz so einfach ist, aber der ganz gezielt hilft.

Kassel: Ist es jetzt schon zu spät, oder wären Sie noch bereit, mit denen zu reden und jetzt zu kommunizieren?

Fahrendholz: Natürlich sind wir bereit, gar keine Frage! Ich muss auch ehrlich zugeben, ich bin ja erst durchs Deutschlandradio auf diese Seite aufmerksam geworden und habe mich jetzt die letzten zwei Tage damit beschäftigt, und ich würde mich freuen, wenn diese Leute auf uns zukommen, und wenn wir mit ihnen sprechen; vielleicht sind wir die richtigen Ansprechpartner, vielleicht sind es aber auch die Treberhilfe oder auch eben gerade die Berliner Tafeln. Möglichkeiten sind da viele, aber eine Zusammenarbeit in der Sozialarbeit ist einfach notwendig.

Kassel: Sagt Guido Fahrendholz, er arbeitet beim "Straßenfeger Radio", das ist die Radiosendung des "Straßenfegers", der Obdachlosenzeitschrift, Radio und Fernsehen machen sie auch. Ich danke Ihnen, dass Sie bei uns waren, Herr Fahrendholz, und sage mal für alle, die vielleicht sagen, da kann er meckern, so viel er will, ich habe trotzdem so viele Pfandflaschen im Keller: Das ist, wie wir mehrmals gesagt habe, einfach die Seite pfandgeben.de, unter der man dann alles weitere erfahren kann!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


Links:
Das Projekt pfandgeben.de ist ab sofort im Internet zu erreichen.