Friedrich Sieburg: "Die Fliege im Bernstein"
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Vom Opportunisten zum Literaturpapst
06:35 Minuten
Friedrich Sieburg
Die Fliege im Bernstein. Tagebuch vom November 1944 bis zum Mai 1945Wallstein, Göttingen 2022232 Seiten
29,00 Euro
Friedrich Sieburg war nach 1945 der führende Literaturkritiker der Bundesrepublik. Sein Tagebuch aus den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs erhellt sein Wesen: Es zeigt das jämmerliche Bild eines Opportunisten.
Friedrich Sieburg war in den 50er-Jahren der mächtigste Literaturkritiker der Bundesrepublik und seit 1956 Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ("FAZ"). Sein Einfluss ist höchstens noch mit dem von Marcel Reich-Ranicki einige Jahrzehnte später zu vergleichen.
Sein Nimbus rührte auch daher, dass er als erster nach dem Zweiten Weltkrieg den wegen seiner anfänglichen Nazi-Begeisterung verfemten Gottfried Benn überschwänglich lobte. Man wusste zwar, dass sich auch Sieburg in der Nazizeit dem Regime angedient hatte, aber das spielte keine Rolle mehr.
Umso aussagekräftiger ist sein Tagebuch von November 1944 bis Mai 1945, also aus der letzten Phase des Hitlerterrors, das jetzt nach etlichen Nachlasswirren herausgegeben werden konnte. Es zeigt das jämmerliche Bild eines Opportunisten, das in eklatantem Widerspruch steht zum selbstbewussten Auftreten des Literaturmagnaten in der Adenauer-Ära.
Bewunderer Himmlers
Friedrich Sieburg hält sich bis zum Schluss alle Optionen offen: Zwar fühlt er sich der Masse der Nazis überlegen und möchte für sich eine geistige Sonderrolle reklamieren. Dennoch hält er zugleich den deutschen Nationalsozialismus noch 1944 für ein „Laboratorium der Welt“, das dem „gedankenlosen Flugsand“ der westlichen Demokratien überlegen sei.
Sieburg bewundert zudem einen der obersten Verantwortlichen für den Massenmord an den Juden, Heinrich Himmler, wegen dessen „Sachlichkeit“ und Konsequenz und konstatiert dessen „ungeheuren Aufstieg in den letzten Monaten“.
Sieburg verachtet die „Hanswürste“ der Münchner Räterepublik nach dem Ersten Weltkrieg, und er verachtet auch England, und zwar noch im Januar 1945 wegen dessen „Hilflosigkeit und Ideenlosigkeit“. Deutschland werde immer stärker sein als eine per definitionem „schwache“ Demokratie.
Private Demütigung
Fast noch desaströser als diese politischen, deutschnationalen Geistestiraden stellt sich allerdings die private Person Sieburg dar. Er leidet nämlich unter einer Art Femme fatale, die er völlig entflammt geheiratet hat und von der er trotz etlicher Demütigungen nicht loskommt.
Es handelt sich um eine Adlige, dafür hatte die selbsternannte geistige Elite in Deutschland immer eine Schwäche: die geborene Dorothee von Bülow und verwitwete Gräfin von Pückler. Das Leben in ihrem Schloss Rübgarten bei Tübingen hält er zwar für eine für sich standesgemäße Umgebung, es ist aber wegen der launischen, divenhaften und gewalttätigen Dorothee die Hölle.
Sie lässt ihn nach ihrer Scheidung dort noch zur Miete wohnen, vergnügt sich aber längst mit anderen Männern und vor allem Nazigrößen. In seinem Tagebuch der letzten Kriegs- und Nazimonate verlaufen der Untergang Deutschlands und die private Demütigung parallel; er gesteht sich ein, dass er seinen individuellen Schmerz noch schlimmer findet als das Leiden Deutschlands. Oft wirkt das wie eine unfreiwillige, grausig-groteske Kabarettnummer.
Aufschlussreiche Edition
Diese schmale Edition ist ein aufschlussreiches Zeugnis: Man erkennt den herrischen, scheinbar souveränen Literaturpapst Sieburg von später in der erbärmlichen Ich-Figur dieses Tagebuchs kaum wieder. Und doch ist es weitaus mehr als eine individuelle Fallstudie: Es geht um den Typus des machtbewussten, sich aber den Zeitumständen immer anbiedernden Medienfunktionärs. So etwas ist immer aktuell.