Florian Illies: "1913: Was ich unbedingt noch erzählen wollte"
Fischer Verlag, 78 Seiten, 20 Euro
"Ich bin diesem Jahr völlig verfallen"
1913 sei das wahrscheinlich faszinierendste Jahr des 20. Jahrhunderts, sagt Florian Illies. In seinem zweiten Buch über 1913 erzählt der künftige Rowohlt-Verleger auch die Geschichte einer Fürstin, die für Rasputin ihre Familie verlässt und die erste Militärpilotin der Geschichte wird.
Ute Welty: Selten waren sich Kritik und Publikum so einig. 18 Wochen lang Platz eins der "Spiegel"-Bestsellerliste und überschwängliches Lob in den Feuilletons. Florian Illies hat mit "1913: Der Sommer des Jahrhunderts" einen Riesenerfolg gelandet, und jetzt nach dem Jahrhundertsommer folgt ein zweiter Band: "1913: Was ich unbedingt noch erzählen wollte". Von Florian Illies wollte ich vor allem also wissen, was er denn unbedingt noch erzählen wollte!
Florian Illies: Ich wollte noch unglaublich viel erzählen aus diesem Jahr und es ist mit jedem Jahr noch mehr dazugekommen. Ich habe damals drei Jahre gelesen und recherchiert für dieses erste Buch zu 1913, und dann hatte ich, als es fertig war, sehr, sehr viele Anfragen, auch eigene Ideen für andere Jahre, und merkte aber schnell, ich will dieses Prinzip jetzt nicht so einfach auf was anderes anwenden. Denn irgendwie bin ich doch in völliger Liebe zu diesem Jahr und bin diesem Jahr völlig verfallen.
"Es gibt so viel mehr noch zu erzählen"
Und dann merkte ich so über die Zeit: Meine Güte, es gibt so viel mehr noch aus diesem Jahr zu erzählen! Und ich kriegte viele Briefe von Lesern, die ganz glücklich waren mit dem Buch, mich aber auf Dinge noch hinwiesen, es sind noch Dinge erschienen. Und all das habe ich über all die Jahre so ein bisschen gesammelt und irgendwann merkte ich, es geht nicht anders, ich will einfach noch mal auf 1913 hin schreiben.
Welty: Es geht nicht anders? Es geht nicht, Sie mussten also quasi noch mal ein Buch in dieser Machart über dieses Jahr machen?
Illies: Genau so, es geht nicht anders, deswegen auch dieser ungewöhnliche Titel, "Was ich unbedingt erzählen wollte", weil ich einfach merkte, es geht nicht anders, das ist so viel toller, toller Stoff und ich möchte nicht, dass die Menschen dieses Jahr 1913 nur mit den ersten 250 Seiten wahrgenommen haben, sondern mit den zweiten, ganz neuen 250 Seiten, die gehören einfach dazu.
Und mit diesen beiden Bänden hat man dann, glaube ich, schon wirklich langsam ein relativ gutes Bild über dieses irrsinnige und wirklich wahrscheinlich faszinierendste Jahr des 20. Jahrhunderts.
Keine Resterampe
Welty: Wie begegnen Sie dem Verdacht, so was wie Rudis Resterampe literarisch zu machen? Also die Geschichten, die es nicht in den ersten Band geschafft haben, schaffen es dann in den zweiten?
Illies: Nein, natürlich ist es zum Glück ganz anders, denn alles, was ich vor sechs Jahren hatte, ist im ersten Buch gewesen, und es ist einfach unglaublich viel neu erschienen, neue Briefwechsel, neue Biografien, im Internet sind eine Unmenge an neuen Daten verfügbar über dieses Jahr. Und es ist sicherlich etwas, was man eigentlich nicht tun darf, noch mal ein Buch über dasselbe Jahr zu schreiben.
Nun hat mich immer auch als Journalist und als Autor natürlich besonders gereizt, das zu tun, was man nicht tun darf. Und deswegen merkte ich selbst, es sind Geschichten, die einfach erzählt werden müssen. Und ich glaube, wenn man das erste Buch gemocht hat und wenn man das erste Buch auf seinem Nachttisch gelassen hat, dann kann man jetzt einfach weitermachen in demselben Gefühl, mit derselben Tonlage und einfach noch mal ganz andere Personen, die man für große Helden hielt, ein wenig auch als Menschen kennenlernen.
Prinzip der Collage
Welty: Zwei Bücher auch in derselben Machart. Haben Sie sich beim Schreiben nie gelangweilt?
Illies: Nein, überhaupt nicht. Ich bin sehr kritisch mit mir selbst. Wenn ich mich langweilen würde, dann hätte ich es auch gar nicht geschrieben, weil ich selbst ganz genau immer schaue, oh, wird es jetzt an diesem Punkt hier vielleicht zu lang, wird es hier zu sentimental, wird es hier zu lustig? Und versuche ja dann, durch dieses Prinzip der Collage, was ja auch im ersten Buch schon war über die zwölf Monate hinweg, also dieses Jahreszeitliche und dann aber diese Collage, eigentlich immer wieder sozusagen aufzuhören oder was ganz anderes dazwischenzuschneiden.
Nein, also keine Sorge, ich habe wirklich ein sehr ereignisreiches und gefülltes Leben, so was schreibt man nur, wenn man wirklich das Gefühl hat, das muss sein. Und auch wenn ich das Gefühl habe, das könnte wirklich noch viele der Leser des ersten Buches auch noch interessieren.
Welty: Im neuen Buch suchen Sie vor allen Dingen die Begegnung mit Kulturschaffenden, wie man das heutzutage nennt, mit Picasso, Hesse, Rilke, Rodin. Warum war Ihnen das ein inneres Bedürfnis?
Illies: Die Menschen aus der Kultur spielten schon im ersten Buch eine große Rolle, kommen jetzt auch wieder vor, Kafka, Rilke, sind eben wie gesagt viele, viele Dinge neu auch entdeckt worden, neu aufgeschrieben worden. Und ich glaube eben wirklich, dass man über die Kultur aus diesem Jahr 1913 so viel erzählen kann über das, was Deutschland, die Welt, Europa bestimmt hat damals.
Es gab zwar auf der einen Seite dieses Aufrüsten, militärisch, und dieses Spiel mit dem Kriegsgedanken, aber eben andererseits, wenn man in die Kultur guckt, sieht man, es gibt auch eine ganz andere Sicht. Es gibt eine Welt, die sozusagen in einer kulturellen Blüte, in einer kulturellen Fülle ist, in der Musik, in der Malerei, in der Literatur, im Tanz, wo dieser Abgrund, der da ein Jahr später plötzlich gähnend, schrecklich auftritt, überhaupt noch nicht zu spüren ist.
Da ist auch eine sehr, sehr große vorwärtsstürmende Energie zu spüren. Und diese Energie einzufangen in dem Bereich der Kultur, in Paris, in London, in Berlin sehr viel, in München, in Wien, das hat mir einfach große Freude gemacht.
Eine Fürstin wird Pilotin
Welty: Haben Sie eine Lieblingsfigur im zweiten Teil von "1913"?
Illies: Ja, ich glaube, die größte Freude machte mir eine russische Fliegerin, die wirklich alles mitbringt, was man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitbringen sollte: Eine Fürstin, hat zwei Kinder, verfällt dann dem berühmten, legendären Rasputin, dem russischen Wanderprediger, der so ein legendärer Sexguru war, dann den Zarenthronfolger heilte, ihm verfiel sie in einer bestimmten Weise.
Und dann flog sie aus Sankt Petersburg nach Berlin. Und hier am Flugplatz in Berlin-Johannisthal da verfiel ihr dann der eigentlich beste Flieger seiner Zeit, ein anderer Russe mit dem schönen Namen Abramowitsch. Und die stürzen ab, und dann geschieht was Unglaubliches, das Flugzeug stürzt ab und der bis dato berühmteste Flieger der Welt stirbt, aber die Fürstin Schachowskaja, die mit ihm flog, steigt unverletzt aus den Trümmern.
Und sie ist so eine Heldin, die immer wieder in dem Buch auftaucht, weil sie immer wieder neue Männer kennenlernt und immer wieder unverletzt aus den dann gescheiterten Flugzeugen und gescheiterten Fliegern steigt.
"Fliegen ist ein Riesenthema"
Und das Fliegen ohnehin ist ein Riesenthema in diesem Jahr 1913, wie man merkt, denn das muss eine ungeheure Befreiung für die Menschen gewesen sein, plötzlich die Wolken von oben zu sehen, nicht von unten wie bislang. Und das macht auch was aus, wie ich in vielen Texten dann begriffen habe, dieses Gefühl: Ich schaue auf die Wolken von oben, das kann sonst nur Gott. Anders als die Menschheit in den Tausenden von Jahren zuvor kann ich von oben herabschauen auf die Welt.
Und deswegen zieht es alle Schriftsteller, alle Künstler permanent zu den Flugplätzen, sie schauen an, was dort geflogen wird, der erste Looping der Geschichte wird geflogen, es gibt große, spektakuläre Abstürze, auch das natürlich gehört dazu, zu so einem schwierigen Jahr. Und dieses Fliegen ist ein großes Thema und da bin ich sehr hinterhergeflogen, um das einzufangen.
Welty: Schon der erste Band war ja sehr filmisch geschrieben, der zweite ist es natürlich auch. Glauben Sie, dass die Leserinnen und Leser damit inzwischen noch besser zurechtkommen, weil wir etliche Netflix-Serien weiter sind?
Illies: Ja, ich glaube, dass dieses Bedürfnis auch dieses Filmischen, des Kurzen, des Collagenhaften und auch der Fortsetzung des Films, die ich liefere, eigentlich ein Genre ist, was gerade durch das Netflix-Schauen ganz vertraut geworden ist. Und ich denke, in diesem Feld kann man auch das Buch lesen. Es ist sozusagen dasselbe: The same but very different. Es ist sozusagen dieselbe Tonlage, aber es sind eben ganz neue Figuren.
Und "1913" wird verfilmt gerade von der Neuen Constantin und es werden eben beide Teile gemeinsam verfilmt, also die beiden Teile sind ins Drehbuch jetzt schon eingeflossen und ich freue mich auch sehr darauf, wenn aus diesem sozusagen filmisch erzählten Schreiben plötzlich ein Film wird, der das Ganze dann sicherlich noch mal ganz anders erzählen wird.
"Genau das Jahr ist meine Leidenschaft"
Welty: Der zweite Band scheint vielleicht ein bisschen aus der Zeit gefallen zu sein, immerhin bestand der Charme des ersten Buches unter anderem darin, dass 1913 passend zum Jahr 2013 erschien. Theoretisch hätten Sie vielleicht doch noch die Möglichkeit, ein Buch über 1919 zu schreiben?
Illies: Ja, ich hätte auch nächstes Jahr ein Buch über das Jahr 1920 schreiben können, Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, ich hätte auch warten können, bis ich 100 Jahre nach 1932 ein Buch über dieses Jahr schreibe, was ja vielleicht ein ähnlicher Kippmoment in der Geschichte ist. Aber nein, Sie können mich nicht davon weglocken, genau das Jahr ist meine Leidenschaft und ich glaube, wenn man gelesen hat, was da alles noch geschehen ist, dann versteht man, dass es richtig war, da noch mal hineinzuspringen.
Welty: Für Sie beginnt 2019 ein neuer Lebensabschnitt als verlegerischer Geschäftsführer bei Rowohlt. Wird aus dem Bestseller-Autor dann ohne Weiteres ein Bestseller-Verleger?
Illies: Das weiß man nie. Das ist ja das Schöne von der Zukunft, dass man nie weiß, was man tun wird und was daraus werden wird. Ich freue mich sehr darauf, dass ich künftig als Verleger bei Rowohlt sehr viel Bücher mit auf den Weg bringen kann aus den unterschiedlichsten Genres und all meine unterschiedlichen Interessen da zusammenführen kann.
Und ich habe bei der Recherche für das Buch etwas gefunden, was dann tatsächlich nicht ins Buch hineingekommen ist, was mich aber jetzt dann eben besonders freut, dass man dann denkt, so fließt dann alles zusammen: Im Jahre 1913 war der Gründer des Rowohlt-Verlages, Ernst Rowohlt, Geschäftsführer beim S. Fischer Verlag, dem Verlag, in dem mein Buch "1913" jetzt erscheint. Und dann dachte ich, so fließt dann sozusagen doch alles in diesem Jahr 1913 für mich zumindest zusammen.
"Das Buch musste einfach geschrieben werden"
Welty: Ist dann die neue Aufgabe auch ein Grund mit dafür, dass dieses Buch jetzt raus musste sozusagen, weil vielleicht dann am Ende des Tages oder mit Beginn des neuen Jahres die Zeit zum Schreiben fehlt?
Illies: Nein, da machen Sie sich eine zu geordnete Vorstellung von meiner Lebensplanung. Das Buch musste einfach geschrieben werden, weil das Buch geschrieben werden musste. Und das Buch ist im Winter geschrieben und im Winter abgeschlossen gewesen. Und das neue, was jetzt kommt, fängt am 1. Januar an, und da werde ich natürlich erst einmal all meine Zeit in die Bücher anderer Autoren stecken.
Welty: Sie werden es mit Autoren zu tun haben, die auch große Namen tragen, Walser, Jelinek, Auster, Franzen. Wie begegnet man diesen Menschen, wenn man selber vom Fach ist sozusagen? Ist das dann ein Vorteil, weil man weiß, wie schreiben geht, oder ist es ein Nachteil, weil es dann am Ende doch Konkurrenz ist?
Der Wahrheitsgehalt von Fiktion
Illies: Nein, Konkurrenz ist es überhaupt gar nicht. Es ist, wie ich jetzt auch in den ersten Gesprächen mit vielen Autoren feststelle, gut, weil es eine Ebene gibt, die erst mal ein Grundverständnis hat für die Haltung des Autors: Wie fühlt sich ein Autor gegenüber einem Verlag, gegenüber einem Verleger?
Ich bin nun ein Sachbuchautor und die großen Namen, die Sie jetzt alle genannt haben, sind auch alles noch mal Autoren aus der Belletristik. Und ich glaube, die spüren auch relativ schnell meine Bewunderung, meine Leidenschaft für die Belletristik. Und das ist dann noch mal, glaube ich, eine ganz andere Haltung, eine ganz andere Verbindung zwischen dem Schreiben und dem Leben, wenn man sozusagen ganz in der Fiktion zu Hause ist.
Aber ich glaube, vor allem kann ich den Autoren sehr klar vermitteln, wie sehr ich an den Wahrheitsgehalt von Fiktion glaube, das tue ich wirklich.
Welty: Das müssen Sie erklären!
Illies: Na ja, ich glaube, jeder, der weiß, von einem Buch hingerissen war und von einem Buch hingerissen ist, verführt, begeistert, irritiert, der merkt, da werden Geschichten erzählt, das sind reine Erfindungen, aber in dieser Erfindung steckt so viel Wahrheit drin, in dieser Wahrheit kann ich so viel lernen für mein Leben, aus dieser Wahrheit kann ich so viel Kraft schöpfen, die ist viel, viel größer als die größte Wahrheit, die ich in einem Lexikon finde oder in einem Wikipedia-Eintrag.
Und ich glaube, dass dieser Wahrheitsgehalt von Fiktion etwas ist, den wir alle so unterbewusst spüren und der uns alle zu solchen leidenschaftlichen Lesern macht, weil man merkt, da gibt es eine erfundene Wahrheit, die oft viel wahrer ist als all die Wahrheiten, die uns jeden Tag angeboten werden.
Welty: Wie wollen Sie Vertrauen aufbauen, nachdem Ihre Vorgängerin bei Rowohlt unter Umständen entlassen wurde, über die die ganze Branche noch spekuliert und rätselt?
Illies: Ich werde im neuen Jahr auch darüber sprechen, was ich vorhabe, was ich plane bei Rowohlt zu tun. Jetzt ist die Phase, da ich noch nicht bei Rowohlt bin, mit den Kolleginnen und Kollegen im Haus zu sprechen, mit den Autoren zu sprechen. Das tue ich sehr intensiv, und alles andere dann im neuen Jahr.
Welty: Neues Buch, neuer Job. Wovor haben Sie mehr Manschetten?
Illies: Vor allem habe ich Respekt. Der Vorteil des Buches ist, dass es schon geschrieben ist, das macht es etwas einfacher. Der neue Beruf fängt erst an. Und ich freue mich darauf, ich bin jemand, der eine riesige Liebe zum Neuen hat, zum Anfang, zum Starten. Und diese ganz große Energie, die darin liegt, die liebe ich, die versuche ich selber zu befeuern.
Man sieht, manchmal wohnt dem Anfang auch ein Abwehrzauber inne, nicht nur immer ein Zauber, das gehört alles dazu. Aber da gibt es eine ganz eigene Energie, die mich immer ganz besonders angelockt hat in den verschiedensten beruflichen Stationen, die ich hatte. Und deswegen schaue ich der Zukunft und dem Neuen mit Respekt, aber mit sehr viel Neugier und Freude auch entgegen.
Welty: Florian Illies zu Gast in "Studio 9", ich sage: Herzlichen Dank!
Illies: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.