Florian Rötzer: "Sein und Wohnen. Philosophische Streifzüge durch die zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens"
Westend Verlag, Frankfurt am Main 2020
288 Seiten, 22 Euro
Ein philosophisches Wohn-Sammelsurium
05:30 Minuten
Florian Rötzer unternimmt eine gedankliche Reise durch Geschichte und Bedeutung des Wohnens. Eigentlich hätten die Themen, die er streift, eine große politische Dringlichkeit. Seine Überlegungen bleiben aber merkwürdig apolitisch.
Ein Titel wie "Sein und Wohnen" weckt besondere Erwartungen, sind wir doch heute durch die Pandemie zum Wohnen geradezu verurteilt. Doch auch unabhängig von der Pandemie ist das Wohnen ein existenzielles Thema: "Der Mensch wird Mensch durch das Wohnen", heißt es in der Einleitung zu Florian Rötzers Buch, das laut Untertitel "Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens" bietet.
Wohnraum von Uterus bis Weltall
Die Streifzüge, die dieses Buch unternimmt, sind einigermaßen beliebig in der Anordnung. Von Platons Höhlengleichnis und Sokrates' öffentlichem Diskutieren etwa geht es gleich ins Jahr 1957, und mit der beginnenden Raumfahrt sind wir auch schon bei der Erde als Wohnraum.
In Florian Rötzers metaphorischem Denken wird alles irgendwie zur Wohnung: Die biologische Zelle erinnert ihn mit ihren funktionalen Abteilungen an den Grundriss einer Wohnung, der Uterus ist die erste Wohnung des Menschen, der menschliche Körper wiederum ist eine Wohnung für alle möglichen Mikroorganismen, die Philosophen entwerfen "Denkwohnungen" – das alles versucht, Rötzer zusammenzuführen. Leider geht es in diesem Sammelsurium rund ums Wohnen oft munter durcheinander.
In Florian Rötzers metaphorischem Denken wird alles irgendwie zur Wohnung: Die biologische Zelle erinnert ihn mit ihren funktionalen Abteilungen an den Grundriss einer Wohnung, der Uterus ist die erste Wohnung des Menschen, der menschliche Körper wiederum ist eine Wohnung für alle möglichen Mikroorganismen, die Philosophen entwerfen "Denkwohnungen" – das alles versucht, Rötzer zusammenzuführen. Leider geht es in diesem Sammelsurium rund ums Wohnen oft munter durcheinander.
Interessant wird es, wenn der Autor bei einem Thema bleibt, so etwa bei den Anfängen des Wohnens, über die man nichts Gesichertes weiß. Der Verlust des Fells und der aufrechte Gang haben in der Menschheitsgeschichte vermutlich ebenso mit der Erfindung des Wohnens zu tun wie das große Gehirn: Für dessen nächtliche Regeneration war ein sicherer Platz für ungestörten Schlaf nötig.
Auf prägnante Thesen und argumentative Stringenz allerdings wartet man vergeblich – stattdessen nutzt der Autor jede Gelegenheit zur Abschweifung. Seitenlang liest man sich durch Betrachtungen über den Fötus in seinem Fruchtwasser, die Gaia-Hypothese, Gerüche, Seuchentheorien und die Geschichte des Ekels.
Dabei beschränkt Florian Rötzer sich weitgehend auf das Referieren von Bekanntem, als es etwa um die Entwicklung der Hygiene geht, zitiert er ausgiebig Foucault und Elias, ohne deren Ansätze jedoch weiterzudenken.
Politische Dringlichkeit des Themas Wohnen
In der Philosophie ist das Wohnen, trotz seiner existenziellen Bedeutung, nur ein Nebenthema. Auch Martin Heidegger und Villèm Flusser, die Florian Rötzer (nebst Emmanuel Lévinas und Marshall McLuhan) ins Feld führt, haben ihre Theorie des Wohnens jeweils nur in zwei Vorträgen formuliert.
Sie sind in jeder Hinsicht Antipoden: Heidegger insistiert auf Heimat, er beklagt die Entwurzelung des modernen Menschen und fordert "echte Bauten" mit einer Verbundenheit zur Umgebung ("provinziell und antiglobal", so Rötzer). Demgegenüber erhebt Flusser, der vor den Nazis aus Prag nach Brasilien fliehen musste, die erlittene Heimatlosigkeit zum Prinzip erhebt und sieht den Migranten als "Pionier des künftigen Wohnens in einer globalisierten Welt".
Das hätte eigentlich politische Dringlichkeit. Doch unter Kapitelüberschriften wie "Obdachlosigkeit und das Phänomen des Entwohnens" finden sich zwar Zahlen und Fakten, aber keine Analyse oder Deutung der Phänomene. Die Flüchtlinge, die an den EU-Grenzen in Zelten oder unter freiem Himmel ausharren, kommen erst gar nicht vor.
Im Kapitel "Die Erde als Wohnung" warnt Florian Rötzer ausgiebig vor dem (nach wie vor bestehenden) Atomwaffenarsenal, während ihm der Klimawandel, der weite Teile der Erde unbewohnbar machen wird, kaum eine Zeile wert ist. Angesichts der politischen Brisanz des Themas Wohnen ist das Buch damit auf merkwürdige Weise apolitisch.