Flucht ins zweite Leben

Von Laf Überland |
Rund um die Uhr tummeln sich durchschnittlich zwischen 15.000 und 50.000 Nutzer im "Second Life". In diesem virtuellen zweiten Leben kann man mit anderen Bewohnern kommunizieren, spielen, einkaufen und Geschäfte abschließen. Insgesamt 8 Millionen Menschen sind bei der Online-Community registriert. Firmen nutzen Second Life inzwischen als einzigartige Marketing-Plattform und auch öffentliche Einrichtungen lieben die virtuelle Präsentation.
Wer nach ein paar Monaten Abstinenz mal wieder Second Life- oder kurz SL - besucht, reibt seinem Stellvertreter - dem Avatar - verwundert die Augen! Das wuselt und wimmelt, klotzt und strahlt vor lauter Aktivität der Bewohner und ist so faszinierend, das man sich sogar für das in und für Second Life produzierte schnelle Privatfernsehen "Life 4U" begeistern kann. Aber natürlich ist nicht alles eitel Sonnenschein im zweiten Leben.

"Die virtuelle Insel des amerikanischen Fernsehsenders ABC ist diese Nacht von Hackern bombardiert und bis auf den Grund zerstört worden. Ein tiefer Krater klafft nun dort, wo einst die virtuelle Vertretung von ABC in Second Life war."

Das Mysterium von SL - und damit das Geheimnis seiner Faszination - besteht darin, dass dieses zweite Leben eine Miniaturausgabe des Ersten ist: Und immer spielt der Mensch ja gern mit von ihm selbst geschaffenen Abbildern der Realität: Nicht zufällig sehen also große Teile der deutschen Inseln inzwischen aus wie elektrische Eisenbahnanlagen aus den Sechzigern, wie Legoland, andere Stadtteile wie Kulissen aus Fantasy-, College- oder Strandpartysurferfilmen: die Miniaturwunderwelt des Heimwehs nach einer Welt wie wir sie uns wünschen: einer Welt, die ohne große Probleme funktioniert. Ein Rummelplatz der ungeahnten - virtuellen - Möglichkeiten, - aber das FBI überprüft die Second-Life-Kasinos: SL mutiert immer mehr zu einer Filiale des echten Lebens: Real Life! Im Mai hat auch die Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden eine Dependance eröffnet:

"Maßstabsgetreu sind die prächtigen Räume des Museums nachgebaut, alle 750 ausgestellten Meisterwerke werden präsentiert. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche stehen die Türen für die Besucher offen: In Echtzeit kann man dort die Kunst anschauen, miteinander chatten, Informationen zu den Kunstwerken abrufen, an Veranstaltungen der Kunstvermittlung teilnehmen, Eindrücke im Gästebuch notieren oder sich im Shop umsehen."

Das grenzgängerische Wesen dieser real existierenden virtuellen Welt irritiert allerdings die "normale" Welt, zum Beispiel: In dem Moment, da der Linden-Dollar - die Währung in Second Life - einen Wechselkurs zum US-Dollar bekam, wurde er zur frei konvertierbaren Währung: und damit Teil des weltweiten Wirtschaftssystems.

"London. Ein Beratungskomitee der britischen Regierung hat vorgeschlagen, virtuelle Währungen wie zum Beispiel den Linden Dollar von Second Life, als ganz normale Währungen zu behandeln und entsprechenden regulierenden Beschränkungen zu unterwerfen."

Dazu passt, dass immer größere Gebiete das Flair von Grömitz-Dahme-Kellenhusen haben:

"Das Apfelland wächst und wächst und bietet zahlreiche tolle Locations für Ihr Business, zum Beispiel die neuen Apfelland-Arkaden, DAS größte deutschsprachige Einkaufszentrum in Second Life, oder die idyllische Altstadt mit tollen Boutiquen. Starten Sie durch in die virtuelle Welt von Second Life! Mit einem Grundstück oder Shop im deutschen Apfelland!"

Andererseits gibt es auch längst ein jüdische Second-Life-Magazin - aus der Schweiz: Barrierenfreier Austausch über Kulturgrenzen hinweg ist ebenso möglich in Second Life wie die Organisation eines Stammtisches zu, sagen wir mal, den brennenden Fragen der Kaninchenzucht oder der neuen amerikanischen Literatur, zu neuen Linux-Anwendungen oder zur Globalisierung. Aber all dies gibt es natürlich nur jenseits der Kommerzviertel.

Manches mutet in denen allerdings auch an wie Satire: Neuerdings kann man zum Beispiel eine Chips-Fabrik besichtigen. Nein, keine Mikrochips (obwohl die großen Elektronikfirmen auch ihre Dependancen haben). Nein, eine Kartoffelchips-Fabrik mit anschließendem Fußballspiel, Party am Strand, gemeinsam Snacken, Freunde treffen, Fahrten mit dem Turbo-Traktor.

"Vielleicht wirst Du ein einflussreicher Geschäftsmann, ein erfolgreicher Arzt, eine Modedesignerin, ein Popstar, ein Politiker und leistest Dir eine Villa, einen Maserati oder doch lieber ein Motorrad? Werde reich und berühmt, es ist alles möglich, es liegt in Deiner Hand. Melde Dich jetzt an!"

Wir Meisten haben es immer noch nicht so richtig begriffen: Ist Second Life nun Eskapismus oder Kolonialismus pur? Es ist wohl beides.Eskapismus und Kolonialismus pur. Wenn unzählige Beraterbüros in aller Welt jetzt Inseln kaufen, um sie als Einkaufsparadiese an Konzerne zu verscherbeln und wenn auch amerikanische Präsidentschaftskandidaten Wahlkampf treiben und der dicke Reiner Calmund auf seiner eigenen Calli-Island über Fußball plaudert oder schaukocht, wenn ein Holocaust-Museum sein Anliegen ebenso zeigt wie die virtuelle Bunny-Insel des Playboy und wo Sabine Christiansen ihre neue Talkshow zeigt, die brasilianische Opposition über Lula debattiert und Österreich eine offizielle Amtstube unterhält, von der man sich sogar Formulare für die Einkommenssteuer runterladen kann.

Und dann lassen wir uns mal überraschen, wie es wirklich ist im Second Life, wenn der Hype der künstlich hochgekochten Aufmerksamkeit jetzt wieder zurückgeht und die heiße Luft abkühlt.
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