Dave Schmidtke, Sprecher des Flüchtlingsrats Sachsen, spricht von einer humanitären Katastrophe in Bezug auf die Situation der Flüchtlinge, die über Belarus nach Deutschland kommen (AUDIO). Die Menschen würden von Gewalt berichten, etwa durch die polnische Grenzpolizei. Er spricht sich klar gegen Zäune und Mauern an der deutsch-polnischen Grenze aus.
Flucht über deutsch-polnische Grenze
Von den Migranten, die über die deutsch-polnische Grenze kommen, landen nach offiziellen Angaben mehr als 80 Prozent in Brandenburg. © picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild / Danilo Dittrich
Die neue Belarus-Route
17:05 Minuten
Mehr als 5000 Geflüchtete, vor allem aus dem Irak, Iran, Syrien und Afghanistan, kamen laut Polizei im Oktober über Belarus und Polen nach Deutschland. In Guben und Gubin an der deutsch-polnischen Grenze hält man wenig von neuen Kontrollen.
Die polnische Polizeibeamtin Julita Cholowinska ist zusammen mit dem deutschen Polizeiobermeister Holger Welkisch in der Grenzstadt Guben/Gubin unterwegs: eine deutsch-polnische Polizeistreife. Seit vergangenem Jahr gibt es dieses Pilotprojekt.
Schwerpunkt der Arbeit ist die grenzüberschreitende Kriminalität. Und: Die Beamten seien mit allen hoheitsrechtlichen Kompetenzen ausgestattet, erklärt der Gubener Polizeiobermeister Holger Welkisch. Die Grundlage dafür ist der deutsch-polnische Polizeivertrag aus dem Jahr 2015.
Der sehe vor, dass der Beamte des jeweiligen Landes den Einsatz leitet. Also ist in Polen die polnische Kollegin die Einsatzleiterin; in Deutschland führt Holger Welkisch den Einsatz. "Solche tief greifenden Maßnahmen wie Schusswaffengebrauch – was hoffentlich niemals vorkommen wird –, das dürfte ich nur, wenn meine Kollegin das anweist", erklärt Welkisch für den Einsatz in Polen.
Geteilt wurde Guben 1945, nach dem Potsdamer Abkommen. Der östliche Teil der Stadt, in dem die Menschen gelebt, sich amüsiert haben, kam nach Polen. Der westliche Teil Gubens, wo gearbeitet wurde, blieb deutsch.
Doch diese strenge Teilung ist Geschichte. Eine richtige Grenze – mit Pass- und Zollkontrollen – gibt es längst nicht mehr. Lediglich zwei Grenzsäulen an der Flussbrücke erinnern daran, dass man von einem Land ins andere fährt. Das Zusammenleben ist in der 30.000-Einwohner-Stadt Guben Normalität.
Forderung nach Zäunen und Mauern
Für eine Diskussion sorgen nun Geflüchtete aus Belarus, die zum großen Teil in Brandenburg landen. Nur: In Guben/Gubin bekomme man davon kaum etwas mit, sagt der Gubener Polizeibeamte Holger Welkisch. Es gebe zwar "mehr Einsätze hinsichtlich dieser Thematik". Aber das Stadtbild habe sich nicht verändert.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, CDU, sieht dennoch Handlungsbedarf: "Die Grenze zwischen der Europäischen Union und diesem kleinen Land Belarus muss jetzt ausgebaut werden. Wir brauchen dort auch physische Grenzen. Wir brauchen Zäune, wir brauchen vermutlich auch Mauern. Das sind alles keine schönen Bilder."
Ob befestigte Grenzanlagen nötig sind, dazu wollen sich die polnische Polizeibeamtin Julita Cholowinska und ihr deutscher Amtskollege nicht äußern. Stattdessen schütteln sie mit dem Kopf.
Sie sind zwar in Guben an der Grenze zwischen Polen und Deutschland unterwegs, dürfen aber keine Grenzkontrollen durchführen.
"Die einzigen Maßnahmen, die wir einleiten, ist, dass wir diese Menschen ansprechen; zunächst mal sicherstellen, dass es ihnen gut geht", sagt der Gubener Polizeiobermeister Holger Welkisch. Dass sie keine Erfrierungen hätten oder Spuren irgendwelcher Verbrechen. "Und dann ist unsere Aufgabe, die Bundespolizei zu informieren, weil die originär dafür zuständig sind. Wir bleiben nur bei diesen Leuten, bis die Bundespolizei den Sachverhalt übernimmt."
Für die Polizeibeamten Julita Cholowinska und Holger Welkisch kein Problem. Gubens Bürgermeister Fred Mahro, CDU, kann es nicht nachvollziehen, dass man die deutsch-polnischen Polizeistreifen bei der Kontrolle der Grenze hinsichtlich der Belarus-Flüchtlinge außen vor lässt.
Versuch, Europa mit Migranten zu erpressen
Forderungen nach Grenzzäunen und Mauern an der EU-Außengrenze sieht der Bürgermeister eher kritisch. Er würde sich stattdessen mehr Miteinander zwischen Landes- und Bundespolizei wünschen. Die deutsch-polnischen Streifen könnten bei der Bekämpfung der illegalen Einwanderung eine Schlüsselrolle spielen, betont Kommunalpolitiker Mahro:
"Sie sind ja im Stadtgebiet präsent. Und sie werden garantiert handeln, unabhängig von Zuständigkeiten. Wenn dort erkannt wird, dass in irgendeiner Weise Schleuser oder Ähnliches unterwegs sind. Also da ist ein deutliches Miteinander möglich."
Laut Angaben der Bundespolizei wurden im Oktober 2021 knapp 5300 Menschen aufgegriffen, die über die neue Fluchtroute Belarus und Polen in Deutschland gestrandet sind. Die meisten Geflüchteten stammen aus dem Irak, Syrien, Jemen und Afghanistan. Nach Informationen des Brandenburger Innenministeriums landen über 80 Prozent im Land Brandenburg, die übrigen 20 Prozent würden sich auf Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern verteilen.
Die Flüchtlinge würden mit einem 14-tägigen Visum nach Weißrussland gelockt. Die Regierung in Minsk versuche so, Europa mit Migranten zu erpressen, sagte die ins Exil geflohene Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja erst kürzlich gegenüber dem Fernsehsender "Euronews".
Angst vor Grenzkontrollen
Für Verunsicherung sorgt jetzt in Gubin – aber auch im gesamten brandenburgischen deutsch-polnischen Grenzland – die von Noch-Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) entfachte Diskussion um Grenzkontrollen.
Das sei keine Lösung, sagt der Gubiner Bürgermeister Bartłomiej Bartczak. Er ist parteilos, Absolvent der Europa-Universität Viadrina, hat auf der deutschen Seite – in Guben – sein Abitur gemacht und einen anderen Vorschlag:
"Mehr Polizeipräsenz in der Grenzregion, als Streifen auf der Straße." Vielleicht wirke das abschreckend auf die Flüchtlinge und vielleicht passierten sie dann nicht die Grenze, vermutet er. "Grenzkontrollen wären aber das Allerletzte."
Und statt forscher Politikmaßnahmen, sagt Bartczak noch, wünsche er sich mehr Kommunikation. Bevor man Grenzschließungen überhaupt auch nur erwäge, wünsche er sich, dass die Politiker in Warschau und Berlin auch mal mit den Kommunalpolitikern vor Ort sprechen würden.
In der Grenzregion sei der Wunsch da, einbezogen zu werden, sagt er. "Wenn es um Entscheidungen geht, die uns betreffen. Eigentlich schade."
Ähnlich sieht es Fred Mahro, der Bürgermeister in Guben – auf der anderen Seite der Neiße. Der Christdemokrat kann sich mit Grenzkontrollen anfreunden, wenn sie kurzfristig und temporär stattfänden, sagt er.
"Wenn Grenzkontrollen eingeführt werden sollten, die natürlich auch die Grenzpendler belasten – wir haben ja tausend Berufspendler, die täglich die Grenze passieren –, dann kann man das nur zeitlich befristet durchführen. Denn ich wünsche mir hier die Rückkehr zur Normalität. Und die heißt eben: keine Grenzkontrollen."
Er befürchte enorme Belastungen für das tägliche Leben der Menschen. Auch weil viele auf der jeweilig anderen Seite arbeiten, zur Schule gehen oder die Ausbildung machen. Sein Gubiner Amtskollege, Bürgermeister Bartłomiej Bartczak nickt mit dem Kopf. Er äußert Verständnis für befestigte Grenzanlagen an der EU-Außengrenze zu Belarus. Erst kürzlich hat dem auch Polens Parlament zugestimmt.
"Das ist eine Schengen-Abkommen-Grenze." Polen müsse die Grenze schließen. "Wenn die Lücken da sind, dann haben wir hier Schwierigkeiten. Und wir müssen uns wehren und gegen die Schwächung der Europäischen Union verteidigen."
"Grenzgang" von Neonazis
Für bundesweite Aufmerksamkeit sorgte in Guben vor zehn Tagen ein sogenannter Grenzgang von 50 Rechtsextremisten einer Neonazi-Kleinstpartei. Sie wollten Flüchtlinge daran hindern, über die Grenze zu gelangen. Fred Mahro verurteilt die Aktion: Das sei nicht zu tolerieren, sagt er.
Anders die AfD. Der brandenburgische AfD-Fraktionschef Hans-Christoph Berndt fordert durchgehende Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze. Nur so könne man den "anschwellenden Migrantenstrom" in den Griff bekommen.
Die stellvertretende brandenburgische AfD-Landesvorsitzende Birgit Bessin unterstützt die Forderung von Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer nach Mauern und Grenzzäunen an der EU-Außengrenze:
"Aber die Frage ist, warum er das nicht schon früher gefordert hat. Immerhin ist die CDU verantwortlich für die Politik der offenen Grenzen."
Die Menschen in den Straßen von Guben und Gubin schütteln bei dieser Wortwahl nur mit dem Kopf. "Nein. Nicht gut", sagt der 45-jährige Remigiusz Leśniański, Tanzlehrer des TTC Calypso im sächsischen Weißwasser.
Mit seinen Tanzkids ist er oft auf Turnieren in Polen unterwegs, weshalb er nicht nur mit befestigten Grenzanlagen, sondern auch mit Grenzkontrollen wenig anfangen kann: "Wir wollen keine Kontrollen an der Grenze." Das bedeute einen weiteren Verlust ihrer ohnehin knappen Zeit.
Wer nach Deutschland wolle, der käme auch nach Deutschland, sagt ein ehemaliger Zivilangestellter der Bundeswehr. Grenzzäune und Grenzkontrollen seien Unsinn, sagt der Cottbuser, der seinen Namen nicht nennen will, und gerade in Gubin unterwegs ist: "Ich versteh es nicht. Ist Symbolpolitik."
Politische Lösungen statt Zäune
Seit Anfang dieser Woche betreibt die Bundespolizei – nach dem Vorbild in Rosenheim – ein sogenanntes Registrierzentrum in Frankfurt/Oder. Das heißt: Binnen 24 Stunden werden die ankommenden Geflüchteten registriert, Corona-getestet und eine Sicherheitsüberprüfung wird durchgeführt. Unmittelbar danach sollen die Geflüchteten auf die anderen Bundesländer verteilt werden, gemäß dem Königsteiner Schlüssel.
Mit dem Rufen nach einem massiven Grenzzaun an der polnisch-belarussischen Grenze – wie es sein Parteikollege, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, kürzlich in Brüssel gefordert hat – kann sich auch Brandenburgs Innenminister Stübgen anfreunden:
"Die Europäische Kommission finanziert schon Grenzsicherungsanlagen, überwiegend im elektronischen Bereich, bisher nicht mechanische Grenzsicherungsanlagen. Ich schließe mich allerdings der Forderung von Lettland, Litauen und Polen an, dass die EU auch hier Unterstützung liefern muss. Es geht nämlich um ganz Europa."
Es brauche politische Lösungen, keine Zäune, sagt dagegen der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm:
"Es wäre traurig. Wenn Europa gegen die menschenverachtenden Aktionen des Diktators Lukaschenko nichts anderes einfiele, als Europa mit Festungsmauern zu umgeben. Für diesen Diktator wäre das ein geheimer Triumph."